Autofictional Shorts Im Dunkeln zu Hause

#26 Im Dunkeln zu Hause

31. März 2021
Im Dunkeln zu Hause

Künstler ohne Werk ist ein autofiktionales Work in Progress, aus dem ich an jedem zweiten Mittwoch hier Ausschnitte veröffentliche.

Viele dieser Shorts stehen in Zusammenhang mit meiner künstlerischen Arbeit, die zu der Zeit entstanden ist, von der der jeweilige Text handelt.


 #26 Im Dunkeln zu Hause

— 1979

Pause. Wir sitzen auf dem Brett, das Hüseyin auf den Boden gelegt hat, damit wir beim Buttern nicht im Nassen sitzen. Der Helm stößt an die Baue, als mein Kopf nach hinten fällt. Die schweren Schuhe lassen meine ausgestreckten Beine auseinanderklappen. Wir kauen schweigend vor uns hin. Ich nehme einen Schluck aus dem Kanister. Tee ist das nicht. Süß, lauwarm und irgendwie zitronig, zwischen obst- und spülmittelzitronig. Schmeckt, wenn man Durst hat. Ich habe Durst.
Ich sitze hier schon ewig, könnte wieder aufstehen, mich unter das Band legen. Den Abbauhammer nehmen, das hereindrückende Gebirge wegschlagen. Meter für Meter. Jeden Tag, jede Nacht, kein Unterschied hier. Im Liegen, auf dem Bauch, auf dem Rücken, auf der Seite, wach, sitzend, schlafend. War ich zwischendurch oben? Sitze ich schon wieder hier oder immer noch? Fahrt ihr nur hoch, ich mach heut doppelt. Ich bleibe hier. Hier unten. Unter dem Förderband. Zu Hause.

Der Teekanister ist längst leer. Der Presslufthammer zischt nur noch. Ganz leise. Oder zischt er überhaupt? Bilde ich mit das nur ein? Irgendwo zischt doch etwas. Pfeift ganz leise. Regelmäßig. Das Band steht still. Das Wasser schmeckt so gut. Längst kommt keiner mehr hier runter. Längst bin ich mit mir allein. Seit Jahren ist die Pressluftleitung still, die Grubenlampe aus. Ich hab mich an die Dunkelheit gewöhnt. Es gibt nichts mehr zu sehen. Die Augen haben Ruhe. Ich lass sie zu. Ich taste, lausche mich voran über die nächste Schwelle.
Es pfeift ganz leise hinter meinem Brustbein, ich bin es selbst, meine Lunge. Atmen. Die Handschuh sind mit meiner Haut verwachsen. Die Jacke irgendwo als Kopfkissen vergessen. Es ist so ruhig hier. Die Kohle schmeckt nach Pfirsich und nach wilden Beeren. Das muss ein schöner Wald gewesen sein, als er noch oben stand, die Sonne auf ihn schien und nachts die immergleichen Sterne.

Der Helm ist mir zu groß geworden, wo ist der überhaupt? Es tropft. Hier gibt es keine Zeit. Wie kann es denn dann tropfen? Und seit wann hat sich der Staub gelegt? Das ist schon lange her.

Ich lecke Grubenwasser von den Wänden. Seit je rinnt es vom Hängenden herab. Warm ist es, süß und nahrhaft. Bis ich müde bin und ruhig schlafe. Lange, man könnte meinen wie auf einem Fels im See. Meine Haut ist fahl, so hell im Dunkeln wie die Grillen und feinen transparenten Motten hier. Ich bin so klein, ich kann in meinen Bergbauschuhen schlafen.

Der Berg drückt weiter, ist jetzt ein Museum, ganz sanft deckt er mich zu in meinen Schuhen, geduldig, bis sich alles wieder schließt. Wo ist men Helm? Jetzt sehe ich auch die anderen, die noch immer hier zu Hause sind. Manche kenne ich von früher. Gustav, August, Willy. Sie kommen immer öfter her. Heinrich, Fritz, Gregorius. Wir sind so viele hier.

Und oben, träum ich, ziehen illuminierte Wege die line of grace and beauty rückwärts am alten Förderturm vorbei. Hier wandert Hüseyin im Regen mit seinen Enkeln über die begrünten Halden, in denen immer noch die alten Feuer brennen, von Ewigkeit zu Ewigkeit.

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