Autofictional Shorts

#7 REIMS

1. Juli 2020
Reims

Künstler ohne Werk ist ein autofiktionales Work in Progress, aus dem ich an jedem zweiten Mittwoch hier Ausschnitte veröffentliche.

Viele dieser Shorts stehen in Zusammenhang mit meiner künstlerischen Arbeit, die zu der Zeit entstanden ist, von der der jeweilige Text handelt.


 #7 Reims

— 1984

Lass die Hände am Lenker.

Jetzt nicht loslassen. Einfach loslassen.
Sind das meine Hände? In den Handschuhen, die den Lenker halten. Am Gasgriff drehen.
Was sind das für Leute? Dort am Zaun. Hier wieder. Einer dreht sich um. Stützt sich auf seinen Rechen. In seinem Vorgarten. Schaut mir nach. Eine Kirche in der Kurve. Gas weg. Es knallt. Jedesmal. Beim Gas wegnehmen. Fehlzündungen. Knallen durch die Sonntagsruhe. In den Dörfern. Ein paar Kinder. Rennen. Staunen. Winken mir nach.
Aber bin ich das überhaupt? Gibt es mich noch?
Ich drehe den Rückspiegel zu mich. Sehe meinen Helm. Die Brille. Bin ich das?

***

Das Motorrad fährt.

Er sieht den Schatten über die Straße gleiten und die Silhouette des Fahrers. Löst der sich nicht auf? Hat er sich nicht schon aufgelöst. Weht ihn der Fahrtwind nicht weg? Eine Nebelfahne bis zurück nach Reims. Auf die Treppen vor der Kathedrale, wo er mit ihr die morgendliche Frühlingssonne genießt und sie sagt: »Ich kann nicht weiter. Ich werde nach Aix fahren. Meine Freundin besuchen.«
»Aber …«
»Ich muss zu mir kommen. Ich kann nicht hinter dir auf deinem Motorrad sitzen und …«
»Aber … wieso?«
»Ich muss allein sein, ein paar Sachen für mich klären.«
»Aber, bei deiner Freundin bist du doch auch nicht …«
»Lass mich bitte. Ich liebe dich. Ich muss nur allein sein.«
»Aber … Wir wollten doch … DU hast mir doch geschrieben, dass du …«
»… und ich freue mich, dass du gekommen bist. Aber … ich brauche einfach Zeit. Ich nehme den Zug. Er geht in anderthalb Stunden. Lass uns reingehen und die Kathedrale ansehen. Wir haben noch eine Stunde. Zum Bahnhof ist es nicht weit. Vielleicht kannst du mich zum Bahnhof fahren. Wenn du möchtest«
»Ich kann dich doch auch nach Aix fahren, oder wohin du willst.«

Sie gehen in die Kathedrale.

Beide ihre Helme am Arm. Er sieht nichts. Spürt den Boden nicht. Setzt sich in eine Bank. Was soll das jetzt? Hatte sie ihm nicht aus dem Skiurlaub geschrieben? Ist er da nicht gleich los? Hatte er nicht nur auf das Zeichen gewartet? Am nächsten Morgen einen zweiten Helm besorgt und ist los. Zwei Tage lang auf der XT. In der Kälte. Durch den Schnee der Ardennen. Rauf, runter, rauf immer geradeaus. Keine Randmarkierung. Dunkelheit und Kälte, aber er wollte zu ihr. Ist gefahren, gefahren. Zu ihr. Mit ölendem Motor statt auf dem Schimmel. Aber sie musste auch nicht gerettet werden. Nicht so sehr wie er selbst.

Sie setzt sich zu ihm.

Nimmt seine Hand.
»Hier sind die Könige von Frankreich gekrönt worden.«
Ist es das, woran sie gerade denkt? An die Könige von Frankreich. Sind die nicht alle geköpft worden. So wie er jetzt gerade geköpft wird. Sieht man sich noch vom Körper wegfliegen unter der Guillotine? Wie lange dauert es bis das Hirn abschaltet. Er sieht sich. Von oben. Da unten sitzen neben ihr. Sterbend. Tot.

Von Ferne hört ich sie sagen: »Es ist schön, dass du gekommen bist. Schön, dass du mich abgeholt hast. Und es war schön in Paris. Aber jetzt muss ich allein sein. Ich muss zu mit kommen. Nachdenken.«
»Ich bin die ganze Strecke … ich dachte, … wir waren doch so gut … macht dir … Spaß … liebe dich … ich ….«
»Ich sage doch. Es war schön. Ich liebe dich. Ich habe es mir so gewünscht, dass ich einfach weiter hinter dir auf dem Moped sitzen kann. Einfach für immer. Aber es geht nicht. Ich muss nachdenken.«
»Über was?«
»Über mich. Über uns. Die Etage. Ich weiß nicht. Mach es mir nicht so schwer.«
»Okay, aber. Soll ich dich nicht doch hinfahren. Ich meine nach Aix. Ich kann dich dann ja dort allein lassen. Du kannst zu dir kommen. Da ist es auch wärmer. Ich meine auch auf dem Motorrad. Und du frierst nicht so. Ich suche mir eine Unterkunft irgendwo. Oder fahre weiter nach Avignon. Und wir fahren erst zurück, wenn du nachgedacht hast.«

***

Ich sehe den Schatten ihres Helms, …

… er tanzt neben mir auf der Straße. Die Sonne steht schon tief. Er hüpft. Ich habe ihn schlecht an meiner Tasche festgeschnallt. Sie wollte ihn nicht mitnehmen. Wozu auch? Im Zug. Ich hätte sie vielleicht doch noch zum Bahnhof fahren sollen. Vielleicht hätte es sie sich dann doch noch einmal überlegt. Oder wäre im letzten Moment aus dem Zug gesprungen, wenn ich auf dem Bahnsteig gewartet hätte. Mach dir nichts vor.
Nachdenken? Worüber will sie nachdenken? Lass deine Hände am Lenker.

Ich gehe mir selbst auf den Wecker. Mit meinem Kloß im Hals. Wie weit bin ich jetzt weg von Reims. Fünfzig Kilometer? Ich fahre voll benebelt. Autopilot. Bekomme überhaupt nicht mit, wo’s langgeht. Wie auf ’ner Schiene.
— Nein, sie ist auf einer Schiene – im Zug, weg von dir.
—Du kannst jederzeit umkehren. Hinter ihr herfahren.
—Wo bin ich jetzt, wenn ich jetzt umkehre, bin ich vielleicht schon vor ihr in Aix. Kann sie am Bahnhof abholen.
— Idiot.

Wieder beobachte ich den Schatten, der neben mir auf der Straße entlang rast. Die Silhouette der XT. Will mich vergewissern. Ich bin noch da. Bin ich das? Bin ich das auf dem Moped? Wie lange fahre ich schon.? Ihr Helm hüpft auf und ab. Ich sollte anhalten und ihn besser festmachen. Wozu? Soll er doch abfliegen. Sitzt da jemand auf dem Motorrad? Bin ich das? Mein Schatten? Ich schaue vom Schatten auf, in den Rückspiegel, der immer noch zu mir gedreht ist. Hinter der Motorradbrille, sind das meine Augen? Anscheinend gibt es mich noch.

Km 94

Zum ersten Mal spüre ich etwas Kraft in den Beinen und sehe, wie schön die Landschaft ist – wie gut die Kiste fährt. Und dieses Gefühl – ich bin ich – und habe Kraft
Ich winke den Kindern zu, die mir vom sicheren Zaun hinterher sehen.

Charleville Mezieres. Gleich kommt die französische Grenze. Ich will noch nicht nach Belgien, besser: ich will noch nicht aus Frankreich raus. Wenigstens in dem gleichen Land bleiben wie sie. Aua. Ich such mir eine Auberge. Schöne Stadt. Aber ich will nicht anhalten. Auf der XT fühle ich mich weniger allein unter den flanierenden Pärchen hier. Die ganze Stadt scheint auf den Beinen zu sein, um die tiefstehende Frühlingssonne zu genießen und dann einen Wein zu trinken irgendwo. Zu zweit.
Ich fahre weiter.

Schon in Reims gab es mich nicht mehr. Ich war ein Teil von K., ein Teil der jetzt zerrissen wird. Wir fahren auseinander. Immer weiter.
Die Entfernung wird größer. Das imaginäre Gummiband spannt sich. Die Haken reißen im Rücken. Ist sie noch im Zug? Ist sie schon angekommen?

Ich kann nicht weiter.

Halte an.
Sowas habe ich noch nie erlebt. Die totale Nähe. Aufgehen, eins sein. Mit ihr. Auflösung. Und diese Angst. War das nur ein Film?
Oder ist das jetzt ein Film? Die Szene, in der einmal sie und einmal er gezeigt wird – abwechselnd – wie sie auseinander fahren.

Die Sonne geht gleich unter. Ich fahre runter von der Straße, lande an einem Fluß, schlage mein Zelt auf. Kaum ist die Sonne weg, wird es auch schon arschkalt. Hätte mir doch eine Auberge suchen sollen. Egal. Jetzt liege ich hier wenigstens noch in Frankreich, in dem Land, in dem sie auch ist. Unten im Süden.
Scheiße, ist das kalt, außerdem habe ich nichts gegessen. Einfach vergessen. Ich wälze mich in vollen Motorradklamotten auf der Moosmatte. Lichtjahre entfernt von der Wärme in den duftenden Kissen in Reims.

Ich will dieses Glücksgefühl, zwei lebende Menschen, die eins sind für Momente, für lange Momente, für immer. Nein nicht für immer. Immer ist es nicht so intensiv, sondern einfach nur da.
Vielleicht ist dieses immer das Problem. Wenn ich es immer hätte, gäbe es mich bald nicht mehr. Und sie wahrscheinlich auch nicht.
Darum ist sie gefahren, darum wollte sie Abstand, Nachdenken. Sich nicht auflösen.
Sie hat recht. Wir dürfen uns nicht auflösen, um ineinander aufzugehen.

Morgen früh fahre ich ihr hinterher. Sie wird sich freuen, mich dafür lieben, ich würde für sie um die Welt fahren. (Aber sie nicht für ein paar Tage allein lassen?) Sie wird mich hassen.
Wann geht endlich die Sonne auf?

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