Autofictional Shorts

#8 Helmstedt

8. Juli 2020

Künstler ohne Werk ist ein autofiktionales Work in Progress, aus dem ich an jedem zweiten Mittwoch hier Ausschnitte veröffentliche.

Viele dieser Shorts stehen in Zusammenhang mit meiner künstlerischen Arbeit, die zu der Zeit entstanden ist, von der der jeweilige Text handelt.


 #8 Helmstedt

— 1984

Hannover. Braunschweig. Helmstedt.

Die letzten Kilometer vor der Grenze. Autobahn. Ich könnte noch umkehren, jetzt. Könnte ihr doch noch hinterherfahren, nach Frankreich. Noch geht es. Letzte Ausfahrt.
Uuuund …vorbei. Checkpoint Alpha. Transit Westberlin. Ich reihe mich in die Schlange vor der Kontrollstelle, schätze die Wagenkolonne ab. Höchstens eine Stunde, dann bin ich hier durch. Hoffentlich hält das Wetter. Ich hänge den Helm auf den Spiegel und schiebe die XT Meter um Meter vorwärts. Wagen für Wagen. Gebe dem VOPO meinen Behelfsmäßigen Berliner Personalausweis und die Papiere vom Moped. Er guckt wie immer zwischen meinem Passfoto und mir hin und her, als ob er jedes Augenbrauenhaar vergleichen würde. Anscheinend erkennt er aber eine Übereinstimmung zwischen mir und meinem Bild im Ausweis. Gibt ihn mir aber natürlich nicht zurück, sondern legt meine Papiere in die kleine blaue Mappe aufs Förderband. Da fahren sie hin. Weg sind sie. Jedesmal dieser mulmige Moment, wenn man nichts mehr in der Hand hat. Jetzt bemerkt er, dass ein zweiter Helm an meiner Tasche hängt. Und telefoniert.

Im Grauen

In dem öden Kabuff riecht es nach Osten, nach Behörde, nach grauer Luft. Das riecht nicht gut. Sie gehen raus. Vermutlich umkreisen sie noch zigmal die XT und durchwühlen mein Gepäck. Ist da irgendetwas, irgendetwas Verdächtiges drin? Alles ist verdächtig. Was können die mit mir machen? Ist das nur Schikane? Wollen sie mir was anhängen? Oder warten sie darauf, dass ich aufstehe und die Tür aufmache? Eine Stunde? Noch eine? Sie stehen bestimmt dahinter, um mich sofort zu erschießen. Das ist der Vorwand. Ich soll die Tür aufmachen. Blödsinn.

Zeit zum Nachdenken

Ich spüre K. Sehe sie lachen. In der Sonne. Beim Cafe au lait. Ich möchte mich auf den Boden rollen. Aber nicht wie schon so oft. Ich möchte nicht schon wieder tot sein. Nicht weg sein. Nicht zu Moos werden. Im Gegenteil, ich will leben. Leben. Ich höre es deutlich. Ich will mich nicht umbringen. Jetzt nicht. Damit ist jetzt Schluss. Plötzlich wird mir klar, dass ich noch nichtmal in Reims tot sein wollte. In dem Moment, als sie gefahren ist – gefahren, um nachzudenken.
Das wäre doch so ein Moment gewesen. Oder der Streit, den wir hatten, nach dem unglaublichen Sex in der Auberge in Châtillon-sur-Seine. Dieser bescheuerte Streit darüber, ob Matisse ein großartiger Maler war oder nicht. Jetzt wird mir klar, dass es da doch wohl um etwas ganz anderes ging. Es geht eh nicht darum, ob Matisse gut ist oder nicht, sondern wie ich das finde. Ob wir uns einig sein können, in einer so wichtigen Frage. Ein Test. Wir verstehen uns nicht. Die Buntmaler sind besser. Ich bin eerledigt. Ich kann mit den Farben, mit Farben, mit bunten Farben nichts anfangen, nichts mit den verspielten Scherenschnitten, nicht mit den pastelligen Tanzreigen. Okay ja, dann bin ich eben düster. Bin ich ein schlechter Mensch deswegen? Immerhin konnten wir uns in Paris auf Rodin einigen. Keine Farben.
Und dann abends im Atelier von Hape. Wäre ich doch bloß nicht mit ihr dahin gefahren. Wollte ihm anscheinend imponieren. Er mit seinem Stipendium. Aber ich komme mit meiner Freundin auf dem Motorrad nach Paris reingeritten. Und dann gockelt der in seinem Atelier rum. Gibt mit seinem Atelier an, und malt neuerdings seine Holzskulpturen auch noch an. Knallbunt. Schön wie die beiden umeinander parliert haben. Ahaaaeifersucht. Das Bistro, in das er uns dann geführt hat, war natürlich dann auch das beste, in dem wir auf der ganzen Reise waren. Und dann bietet er auch noch an, in seinem Atelier zu schlafen. Nix mit Sex in einer abgefahrenen Auberge. Obwohl wir ein paar Tage in Paris ausruhen wollten, überrede ich sie, am nächsten Tag weiterzufahren, nach Reims, die großartige Kathedrale anzuschauen.

Scham

Mir wird schlecht. Ich setze mich auf den Boden. Kann nicht mehr länger auf dem Stuhl hier sitzen. Zucke innerlich zusammen, peinlich bei der Vorstellung, dass ich der Idiot war in Paris. Der Idiot bin. Muss sie deswegen nachdenken?
Aua. Ich kippe zur Seite. Bitte, nicht hier auf diesem stinkenden DDR PVC. Ich will nicht tot sein. Diesmal nicht. Nicht hier. Ich will leben. Mit ihr. Mich nicht umbringen und mich nicht auflösen. In ihr. Ich werde mich nicht auflösen. Ich bin ich. Keine Farben. Eine unerwartete Energie. Ein seltsames Gefühl. Ich bleibe am Leben.
Ich bin bereit. Ich freu mich auf das Atelier. Ich freu mich auf mich.

Ich schaffe es …

… erstmal wieder auf den Stuhl. Bevor die Tür aufgeht. Das ganze Kommando hat sich anscheinend entschieden, mir zu glauben. Die Geschichte von meiner Freundin, die sich in Frankreich von mir getrennt hat. Ich meine, nicht getrennt hat, sondern die nur noch etwas anderes vorhatte, jemand besuchen wollte, woanders hingefahren ist und ich nur den Helm mit nach Hause nehme. Nein, ich habe kein Foto von ihr dabei. Nein ich habe nicht vor, auf der Transitstrecke anzuhalten. Das heißt außer zum Tanken. Ich werde tanken müssen in Börde oder spätestens in Michendorf. Nein, natürlich werde ich niemanden mitnehmen. Ich will einfach nur nach Hause. Wo immer das auch ist.

Ta dang …

… ta dang, ta dang, ta dang, 150 Kilometer ta dang, ta dang, ta dang, ta dang, Betonplattentransit durch die DDR. Fahre streng hundert und werde auch nur einmal rausgewunken wegen der Füße auf den hinteren Fußrasten. Nicht bremsbereit. Dauert nur ne halbe Stunde. Vierzig D-Mark und ich kann weiter. Checkpoint Bravo, Dreilinden, Avus.
Plötzlich bin ich einer unter vielen und viel zu warm angezogen. Es war wohl der erste warme Sonntag des Jahres. Jetzt kommen sie alle auf ihren Motorrädern zurück aus Wannsee, Steinstücken oder von der Spinnerbrücke. Weit kommt man in Berlin ja nicht. Überall prallt man an der Mauer ab. In den französischen Dörfern haben sie mir nachgewunken. Die Normalität der Sonntagsausflügler tut weh. Weil ich sie mir so wünsche?
Beinahe wäre ich Hüttenweg rausgefahren.
Traue mich dann aber doch nicht und fahre weiter Richtung Funkturm.
Dieser Wunsch nach Zehlendorf. Ich glaube, ich wollte wieder diese Nähe – irgendwas, was mit ihr zu tun hat. Und ich wollte mir auch kurz einreden, ihre Mutter würde mich verstehen. Der kannste erzählen, was war, was ist, wie benebelt du bist.
Einfach mit irgendjemand reden. Hat sie sich vielleicht gemeldet? Was gesagt? Sind wir noch zusammen? Sie mit mir?

Okay, ich hab niemanden, …

… mit dem ich reden könnte. Unter all den Leuten, mit denen ich wohne. Holger hängt in Guatemala rum oder in Chiapas. Und der hat keine Ahnung. Keine Ahnung, wie sich sowas anfühlt. Wer soll das verstehen? Was soll ich sagen? Was will ich denn hören? Wird schon wieder? Lass sausen? Mann, du hast dich zum Horst gemacht, ihr hinterher zu fahren, wie blöd kann man sein?
Es ist das erste mal in meine Leben, dass ich etwas aufschreiben will. Ich bin jetzt, was? Sechsundzwanzig. Und ich will jetzt etwas aufschreiben. Wie jetzt? Tagebuch? Ich muss das klarkriegen. Die Hoheit über diese Geschichte bekommen, was passiert da mit mir? Gibt es mich noch. Instagram ist noch nicht erfunden, da müsste ich nochmal sechsundzwanzig Jahre warten, um mir und der Welt zu zeigen, hey ich bin hier, mich gibt’s und es ist cool. Like. Herzchen, dope bike bro. Ich strudele weg in #heartache. Es brennt im ganzen Körper und macht das Gehirn dumpf. Ich muss mir das selbst erklären.

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