Autofictional Shorts

#18 Ins Licht

21. Oktober 2020

Künstler ohne Werk ist ein autofiktionales Work in Progress, aus dem ich an jedem zweiten Mittwoch hier Ausschnitte veröffentliche.

Viele dieser Shorts stehen in Zusammenhang mit meiner künstlerischen Arbeit, die zu der Zeit entstanden ist, von der der jeweilige Text handelt.


 #18 Ins Licht

— 1974

Weißt du noch, wie dein Vater es gemacht hat? An seinem Geburtstag freut er sich mit uns, dass Müller den Pass von Bonhof nicht unter Kontrolle kriegt, aber den Ball trotzdem ins Tor. Deutschland gewinnt die Abwehrschlacht gegen die Niederlande und wird Weltmeister. In Farbe. Zigaretten, Zigarillos, Zigarren. August wird 72. Der Schnaps fließt. Es wird gefeiert. Das letzte Mal für August.
Das nächste Mal sehe ich ihn ein paar Tage später aufgebahrt.
Verwundert, dass es so schnell geht, und überrascht, dass er so einverstanden ist, setzt er sich aufs Sofa, ihm ist nicht gut, schwindelig, und während seine Frau versucht, ihm ein Glas Wasser zu holen, weiß er, dass er sich gerade aus seinem Leben hier schraubt.
— So friedlich, als würde er schlafen.
Nein, nicht als würde er schlafen. Als wäre er tot. Das Gesicht gelb, wächsern. Die Haare lila. Die gefalteten Hände fleckig und die Nägel blau. Es ist Sommer. Es ist warm. Auch in der kühlen Leichenhalle. Noch einmal kommt er ein paar Nächte später zu mir. Dass ich über seinem offenen Grab, nichts anderes zu tun weiß, als zu heulen, trägt er mir nicht nach. Ich bin ja fast noch ein Kind und er weiß, dass ich ihn vermisse. Dann ist er drüben.

— 1976

Und weißt du noch, wie dein Schwiegervater über Monate auf seiner Seite des immer größer werdenden Ehebetts sein Leben ausatmet, ausleidet, ausspuckt? Er ist ganz dabei und lässt uns dabei sein. Stirbt seinen eigenen Tod. Unter unseren Augen. Ich bin ja fast kein Kind mehr. Tag und Nacht, Gramm für Gramm, Tropfen für Tropfen holt sich der Tod das Leben aus seinem Körper. Verzweifelt, dass es so lange dauert. Bis nichts mehr in den Kissen liegt, das noch krampft, röchelt und lebt. Endlich. Er atmet auf. Porco Dio! Saluti. Manchmal rede ich noch mit ihm.

— 2014

Du bist jetzt seit acht Jahren tot und hast es noch immer nicht bemerkt. Wie kann das sein?
Vielleicht, weil du nicht dabei bist, bei deinem Tod. Vielleicht, weil du ihn überlassen hast, der Narkose, die, anders als der Schlaf, zeitlos macht. Abgegeben an die Koryphäen, die dich Stück um Stück zersägen, bis du endlich verblutest, ohne es zu merken.
Du ahnst es schon, sagt dein Blick, den du noch einmal zurückwirfst, als sie dich ein letztes Mal aus dem Zimmer schieben. Doch als sie dich unter das gleißende Licht auf den stählernen Tisch heben, bist du schon nicht mehr da.
Jetzt bist du hier.

Und ich bin hier.
Ich komme mit dem Wagen. Katrin fährt mich. Sie hat es als Erste bemerkt. Jetzt biegt sie in die Villenkolonie ein. Erzengel Mikey findet gleich einen Parkplatz für uns, lässt jemanden wegfahren. Platz machen. Direkt vor der Jugendstilvilla mit der geräumigen Praxis im Erdgeschoss. Da atmet spirituelle Wohlfühlatmosphäre, lichtes Licht und duftender Duft. Helle Augen begrüßen mich auf Strümpfen. Ein klarer, schlanker Mensch, dessen gepflegter Bart und frischer blonder Scheitel mit beiden Beinen auf dem Boden steht, über dem er schwebt. Ich bin hier damit er mir hilft … damit er dich … unser Ziel ist es … dich … dass wir dich gemeinsam ins Licht schicken.
What? Ja.

— Ist er denn jetzt da?

— Ja. Er sitzt hier. Traut sich gerade nicht. Lernt anscheinend, und … jetzt nehme ich mal ganz kurz Kontakt mit ihm auf und frage ihn einfach mal, was er denn gerade spürt, wie es ihm gerade geht. Hhhhm. Ihm geht’s so wie immer. Wieso fragst du? Mir geht’s gut. So und jetzt werde ich ihm mal sagen, ihm ganz kurz erzählen, was passiert ist. Dass er, im Jahr 2006 war das, verstorben ist im Krankenhaus, ob er das mitbekommen hat. Was, das ist eine Frechheit, ich bin doch nicht verstorben.
— Oh, wow, das ist er, genau seine Stimme.
— So, ich führe ihren Vater mal ganz kurz dahin, wo es passiert ist, da wo er tatsächlich aus seinem Körper rausgegangen ist und im Sterben lag. Er muss sich kurz nochmal drauf einlassen. Ich bring ihn da mal ganz liebevoll hin. Dann kann er sich die Szene noch einmal kurz anschauen. Da ich ihm das nochmal zeige. Da … und er ist jetzt … aussenstehend … er leidet jetzt auch keine Angst oder Schmerzen … er sieht es jetzt auch … von außen einfach nochmal, damit er für sich … nochmal erkennen kann, wie das damals passiert ist … hhhhhhchmmmhhh. Jetzt hab ich ihm auch … das war der Moment. Wo er verstorben ist… hhhhhmmmmhh … okay, jetzt wird er nachdenklich. Jetzt hat er es begriffen … hchochhhhh … Starrsinnig war er schon, nicht.
— Naja.

— Dann werden wir jetzt so eine kleine Verabschiedung machen. Und ihn auch begleiten. Und ihn oben in das Licht schicken und auch darauf achten, dass er dort abgeholt wird von seinen Schutzengeln, auch von Verstorbenen, die vielleicht schon vor ihm gegangen sind. Und die sehen sich und treffen sich oben. Und dann ist es immer ein Leichtes.
Ich begleite die Seelen immer bis an die Grenze des Lichts. Ich kann, ich sag mal, ich nehm sie an der Hand, führ sie bis ans Licht und sie müssen dann weiterlaufen und werden entgegengenommen von den Verstorbenen, die oben schon warten. Sie werden liebevoll aufgenommen. Ich darf aber nur bis zu einer bestimmten Schwelle und weiter gehe ich auch nicht.
Wir können ihn ja noch fragen, was er denn noch möchte, ob es unerledigte Dinge gibt, die er ihnen vielleicht noch zu sagen hat. Oder … hhhhhhhch, ob sie ihm auch noch was zu sagen haben.
— Ich würde ihm gerne sagen, wenn ich ihm noch was sagen sollte, dass er eigentlich sogar …
— Sagen sie es ihm direkt in der Du-Form. Papa, ich seh das so, dass du … systemisch nennen wir das. Dann hat er es leichter zu gehen.
— Ah ja, also, ich finde du hast das sogar sehr gut gemacht, also ich hatte schon eine ganz gute Kindheit. Gut, viele Sachen hätte ich mit anders gewünscht, aber ich finde, also für das, was dir zur Verfügung stand, hast du das gut gemacht. Du warst ja auch ein liebevoller Großvater, mit den Möglichkeiten, die er hatte. Also mit deinen Möglichkeiten, die du hattest. Die Kinder haben dich in guter Erinnerung.

— Er ist ganz emotional auf einmal. Danke, dass du, — oh, das sind jetzt seine Tränen, die ich hier weine — mir das so nochmal sagst. Das war ganz wichtig für ihn, das nochmal zu hören.
Sagen sie mal bitte zu ihm, dass wir ihn jetzt entlassen wollen, gemeinsam ins Licht bringen wollen. Und dass er auch nicht mehr in ihren Körper kommen muss. Sondern, dass er oben erwartet wird. Und wir lösen dieses ganze System jetzt auf.
— Also okay, pass auf. Du gehst jetzt in das schöne Licht, da sind auch schon andere, August wahrscheinlich, und dann lässt du es dir da gut gehen. Du brauchst auch nicht wieder in meinen Körper zu kommen, weil … na, das braucht man gar nicht zu begründen. Du brauchst es jetzt nicht mehr und wirst es auch gar nicht mehr wollen.
— So jetzt hoffen wir, dass seine Engel, all seine geistigen Führer zu ihm kommen, um ihn ins Licht … und zwar. Er sitzt noch hier und er sieht jetzt oben dieses goldene Licht, das Licht, in das er auch reingehen möchte… hhhhhmmmmhh.
Wir konzentrieren uns einfach nur darauf, dass wir ihn da oben hinschicken. Wir danken ihm einfach nochmal, dass wir ihn kennen durften, dass wir ihn kennengelernt haben, Wir danken, dass er ihr Vater sein durfte, dass er Großvater sein durfte. Danke für all das, was er getan hat. Sehr liebevoll. Wir sind sehr stolz darauf, was er vollbracht hat in seinem Leben. Danke dafür, ich nenn ihn einfach mal beim Namen, damit er auch weiß, was passiert.
Du wirst schon sehen, du wirst schon sehnsüchtig erwartet. Schon seit vielen, vielen Jahren Und jetzt ist es vorbei. Du brauchst hier nicht mehr zu sein. Und wenn du jetzt nach oben guckst, nach rechts oben in das Licht, wirst du sehen, dass da ganz viele Wesenheiten schon auf dich warten. Und dich mitnehmen möchten. Es wird ein großes Wiedersehen geben. Und eine große Feier. Die haben dich vermisst. Seit acht Jahren fehlst du da oben. Du hast was nachzuholen. Wir schicken dich jetzt einfach mal dorthin. Ich geh mit dir bis an die … bis an den Rand des Lichts.

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