Autofictional Shorts

#32 Das Märchen vom Feigenbaum

30. Juni 2021

Künstler ohne Werk ist ein autofiktionales Work in Progress, aus dem ich an jedem zweiten Mittwoch hier Ausschnitte veröffentliche.
Viele dieser Shorts stehen in Zusammenhang mit meiner künstlerischen Arbeit, die zu der Zeit entstanden ist, von der der jeweilige Text handelt.


 #32 Das Märchen vom Feigenbaum

— 2021

Als der Vater nicht mehr zu retten ist, er aufgibt und gestorben und begraben ist, lädt der Sohn die Witwe ein, ihn zu besuchen hinter den Bergen im Land wo die Zitronen blühen. Sie ist schon oft geflogen und gereist, doch hier, so scheint es, ist ihr alles fremd. Der Sonne zu viel, des Wassers zu wenig, das nächtliche Hundegebell läßt sie nicht schlafen. Einzig der Feigenbaum, in dem sie ihre Enkel klettern sieht, erfreut sie. So ist es schnell beschlossen, so ein Baum, das ist auch was für ihren alten, großen Garten, in dem sie zwischen Obst und Hühnern aufgewachsen ist.

Bald reisen also zwei kleine Feigenbäumchen ausgegraben als winzigkleine Sprosse, feuchtgehalten durch ein nasses Tuch, eingewickelt in eine Plastiktüte, aus ihrem Heimatland hinter den hohen schneebedeckten Gipfeln in den fernen Garten. Da reut es die Witwe, tagsüber weiß sie nicht warum. Im allerhintersten Winkel ihres weiten Gartens gräbt sie so weit entfernt, wie es nur geht zwei fingertiefe Löchlein und pflanzt die Sprösschen ein. Doch schon im nächsten Sommer erblickt sie hier zwei kleine Bäumchen. Noch nicht ganz hüfthoch, aber doch schon deutlich übers Knie. An dünnen Stämmchen, die Blätter in der oft gemalten Form, unproportional in ihrer Größe, wie auch bei Menschenkindchen der Kopf zu groß und schwer für den kleinen Babykörper scheint. Sie strahlen Freude aus, die kleinen Bäumchen, Lebensfreude, Mut, und Unbekümmertheit. Das Enkellachen ist für den, der lauscht, deutlich zu hören. Die kleinen Feigenbäumchen wachsen und gedeihen, wie man so sagt. Die Sonne tut so gut, der Regen. Der Boden hier scheint besser als zu Haus. Tapfer wachsen sie höher, die beiden Brüder aus dem gleichen Stamm am anderen Gartenende. Strecken sich fröhlich in die Höhe. Schon im zweiten Jahr lassen sich die ersten Früchte sehen, vereinzelt nur, erst grün, dann leicht ins Gelbliche reifend, süß vom Ast, in die Hand in den Mund. Es werden mehr im dritten Jahr, es reicht schon für ein paar Gläser Marmelade.

Tagsüber ist die Witwe stolz, verteilt das Obst und läßt sich für ihren grünen Daumen feiern.

Doch nachts schleicht eine schwarze Witwe kaum zu sehen durch den Garten. Weht um die Bäume herum, die still stehen, sich nicht rühren. Hat da nicht doch einer geweht, eine von diesen hohen Tannen, die später erst dazu gekommen sind, vom Sohn gepflanzt, vom Sohn, der jetzt nicht da ist, nicht da ist, wenn man ihn braucht? Glaub, dass er sich mit Feigenbäumchen, ja was? hier einen Anspruch geltend machen kann. Wie kam er denn dazu, hier einfach Tannen, Lerchen, Fichten anzupflanzen? Bei diesem Wind? Tanzt er dir auf dem Kopf herum? Und ist der Feigenbaum, den er dir aufgeschwazt, nicht auch schon wieder nachgewachsen, obwohl du ihn so stark zurückgeschnitten hast? Was machen denn die Bäume hier? Sie wachsen vor sich hin, lachen dich aus und lassen ihr Spitzen wehen. Woher weht denn hier der Wind? Und warum weht er jetzt so stark, es stürmt sogar. Das ist Orkan. Er will die Bäume auf dich stürzen? Diese Bäume hier. Auf dein Haus? Auf alles was du hast. Fang an, mach schnell, bevor die Sonne aufgegangen ist. Wo ist der Gärtner? Die Tannen müssen weg, sie müssen weg sofort.

Sie spürt den Sturm, er zieht herauf, von wo? Von innen. Alles wird schwarz, nichts mehr zu sehen, da wird der Himmel klar und Sterne zeigen sich. Die Tannen sind verhäckselt. Der Gärtner abgerückt.

Was hast du da gemacht? Alles ist kahl. Es musste sein. Sie wollten mich erschlagen. Der Wind, die Bäume, alles macht mir Angst.
Endlich Ruhe. Vor dem großen Fenster steht der alte Birnbaum. Ihr Kindheitsbaum. Nur auf ihn ist hier Verlass, er steht ganz ruhig vor dem Fenster, der Lebensbaum. Sie weiß, sie wird nicht sterben, bevor er eingegangen ist.

Oh nein, der Feigenbaum wächst weiter. Nachbar komm, bring deine Säge. Muss dass denn sein? Ich werde nicht mehr Herr über den Feigenbaum. Und ich will Herrin sein in meinem Garten. Er hat hier nichts zu suchen, dieser Baum. Er wächst und wächst, nun säg schon. Grab ihn mit der Wurzel aus. So graben sie, weder Herr noch Herrin, bis in alle Ewigkeit.

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