Autobiographisches Schreiben

Autobiographisches Schreiben – #27 Erinnerung

1. April 2020
Erinnerung

Heute möchte ich diesen ersten Teil der Reihe über autofiktionale Texte mit einer kurzen Zusammenfassung abschließen. Dabei soll es auch noch einmal kurz um die Rolle der Erinnerung in diesen Texten gehen.

Ich habe Texte besprochen, die weit zurückliegende Ereignisse thematisieren. Konzentriert auf einen einzigen Vorfall,  Texte, die lange Episoden oder Lebensphasen beschreiben. Und Texte, die den Anspruch haben, ein ganzes Leben unter verschiedenen Aspekten nachzuerzählen.

Oft wird die Auseinandersetzung mit dem Schreiben selbst thematisiert, spielt das Schreiben eines Buches, die Tücken des Literaturbetriebs und nicht zuletzt der Rolle des Autors selbst eine Rolle.

Die Themen

Oft sind es traumatische Erlebnisse, die aufgearbeitet werden. Die eigenen oder miterlebte Psychosen oder Depressionen. Mehrmals ist der Selbstmord der Mutter Thema, und es wird von Missbrauch oder der Flucht aus der Heimat erzählt.

Annie Ernaux »erinnert« sich an ein traumatisches Ereignis in ihrer Jugend, versucht durch die Erzählung die narrative Hoheit über das gemeinsam Erlebte zurück zu gewinnen. Aber ist es sie noch selbst, an die sie sich erinnert. Diese Unsicherheit drückt sie darin aus, dass sie zwischen der Annie Ernaux, an die sie sich erinnert, und der, die sich erinnert unterscheidet. Von der ersten schreibt sie in der dritten Person, von der zweiten in der ersten Person.

Damit trägt sie der Erkenntnis Rechnung, das Gedächtnis des Menschen, wenn es um seine eigene Biografie geht sehr – sagen wir mal – kreativ ist.

Delphine de Vigan und Peter Handke verfolgen den Lebensweg ihrer Mütter nach deren Selbstmorden.

Thomas Melle erinnert sich an viele Dinge, die in psychotischen Phasen passiert sind gar nicht. Ist auf die Erzählungen seiner Freunde angewiesen. Und William Styron gibt Einblick in seine schweren depressiven Episoden.

Alina Bach bringt ihre zermürbenden Erfahrungen mit der Depression ihres Geliebten in eine wunderbar stringente Dramaturgie und setzt der Liebe ein Denkmal. Und Michael Greenberg beschreibt, wie er die Psychose seiner Tochter erlebt.

Karl Ove Knausgård erinnert sich noch nach Jahrzenhnten an die kleinsten, nebensächlichsten Kleinigkeiten und stellt sein Leben unter verschiedenen Aspekten dar.

Die Mittel

Die katharsische Notwendigkeit des Schreibens spielt in vielen autofiktionalen Texten eine große Rolle. Etwa bei Merethe Lindstrøm oder Tomas Espedal.

Immer wieder tauchen die Autoren mit ihren eigenen Namen als Autorenfiguren in den Texten auf. Und machen damit die Differenz zwischen Autor, Erzähler und Autorenfigur umso deutlicher, etwa bei Isabel LehnThomas Glavinic oder Navid Kermani.

Und immer wieder wird ein Stilmittel benutzt, dass die Glaubwürdigkeit der Erinnerung und die Authentizität des Textes bekräftigen soll: die präzise Angabe von Details. Wetter, Kleidung, Uhrzeit, Farbe des Tees …

Aber können wir unserer Erinnerung trauen? Natürlich nicht.

Auf einem Veranstaltung am Rande der Berlinale habe ich Julia Shaw kennengelernt. Sie ist Psychologin und beschäftigt sich mit Erinnerungen. Sie sagte: Die Frage ist nicht, ob wir uns falsch erinnern, sondern wie falsch wir uns erinnern.

In vielen Experimenten hat sie nachweisen können, dass sich Erinnerungen in das Gedächtnis von Menschen einpflanzen lassen. Sie hat es sogar geschafft, dass sich 70% der unbescholtene Teilnehmer einer Studie sich einer Straftat zu bezichtigen, die sie nie begangen hatten. Und nicht nur das, sie konnten sich auch die kleinsten Details erinnern, wie z.B. das Wetter am angeblichen Tatzeitpunkt. (In Anlehnung an ihre Erkenntnisse und Experimente wird gerade eine TV-Dramaserie entwickelt)

Aber man braucht, das wissen wir alle aus eingener Erfahrung – nicht unbedingt jemanden, der einem Erinnerungen einpflanzt. Das können wir auch ganz gut selbst. Wir erzählen uns Erlebtes immer wieder neu, Schmücken aus, übertreiben, erfinden und vor allem lassen auch gerne mal etwas weg. (ohne bewusst zu lügen, oder sich etwas vormachen zu wollen) Und damit überschreiben wir dann die tatsächlich passierten Ereignisse. Unser Gedächtnis speichert eben nicht alles so ab wie ein Computer.

Da mag Saša Stanišić noch so wettern: Ich habe das Betrügerische der Erinnerung satt und das Betrügerische der Fiktion allmählich auch.

Wir erfinden die Legende unseres Lebens ständig neu und zwar, indem wir sie immer wieder erzählen, uns und anderen.

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