Autobiographisches Schreiben

AUTOBIOGRAPHISCHES SCHREIBEN #21 MORNING PAGES

20. November 2019
Morning Pages

Bevor wir in die Winterpause starten und der Red Bug Adventskalender übernimmt, geht es heute in der Reihe über autobiographisches Schreiben mal nicht um einen literarischen autofiktionalen Text, sondern um die sogenannten Morning Pages.

Der Begriff Morning Pages ist, soweit ich weiß, durch Julia Camerons Buch The Artist’s Way bekannt worden. Das Buch ist 1992 bei Jeremy P. Tarcher Publishing erschienen, nachdem es zunächst von keiner literarischen Agentur angenommen worden war und Cameron fotokopierte Exemplare erfolgreich in Buchhandlungen verkauft hatte. 1997 ist dann das Begleitbuch The Artist’s Way Morning Pages Journal: A Companion Volume to the Artist’s Way herausgekommen.

Das Buch gründet auf den Überlegungen des Human Potential Movement. Eine Bewegung aus den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts. Dabei wird angenommen, dass man als Mensch sein Potenzial durch bestimmte Verhaltensweisen, Übungen und Praktiken entwickeln und ausschöpfen kann, und dadurch das Leben erfüllter, kreativer und glücklicher wahrnimmt. Unter den vielleicht bekanntesten Vertretern sind Michael Muphy, Abraham Maslow, Aldous Huxley, Jean Houston, Moshe Feldenkrais und Viola Spolin.

 

Was sind Morning Pages?

Für Julia Cameron gehören Morning Pages zu ihrer sogenannten Morning Routine. Und ich gebe zu, für mich auch.

Morning Pages unterscheiden sich von einem Tagebuch oder irgendeiner anderen Form von Journal, dadurch dass man sie, wie der Name sagt, morgens schreibt. Möglichst als erstes, bevor man aufs iPhone schaut, und möglichst täglich.

Der formale Rahmen für die Morning Pages ist (streng) vorgegeben:

  • Es sollten drei Seiten sein …
  • … aber auch nicht mehr.
  • Handgeschrieben.
  • Sie müssen noch nicht einmal leserlich sein …
  • … sollten aber eben gleich am Morgen geschrieben werden.

Inhaltlich kann man bei Morning Pages nichts falsch machen:

  • Sie müssen nicht kunstvoll,
  • nicht in elaborierten Sätzen,
  • nicht in elaborierten Gedanken geschrieben sein.
  • Sätze, Worte, Fetzen …
  •  … Rechtschreibung, natürlich egal.
  • Alles, was einem durch den Kopf geht kann und sollte hingeschrieben werden …
  • … so wie es in den Kopf kommt.
Wie wirken Morning Pages?

Morning PagesIch finde es immer wieder interessant, was ich dann aufschreibe. Oft sind es nicht die Dinge, von denen ich glaube, dass sie mich gerade sehr beschäftigen. Vielleicht will ich einen Traum aufschreiben, schweife dann aber ab. Oder ich bin, was oft passiert, im Halbschlaf schon mit einem Problem, einer Aufgabe beschäftigt, die ich an dem Tag angehen möchte. Beim Schreiben der Morning Pages schiebt sich dann allerdings oft etwas ganz anderes in der Vordergrund.

Nicht selten kommt es vor, dass ich beim Losschreiben, selbst überrascht bin, was mich offensichtlich gerade beschäftigt. Oft sind es eben nicht die »großen« anstehenden Aufgaben, Probleme, Auseinandersetzungen.

Es geht nicht darum, einen Gedanken zu verfolgen. Oder vielleicht eine Situation möglichst genau wiederzugeben. Im Gegenteil: Das Besondere ist, dass man seinem Gedankenstrom, seinen Gefühlen folgt, wie sie gerade auftauchen. Und einfach alles aufschreibt, vor allem auch frei von dem eigenen Zensor im Kopf. Die Morning Pages sind nicht dazu da, von irgendjemand gelesen zu werden.

Schreibmeditation

Dabei ähnelt das Schreiben der Morning Pages Meditationssitzungen, bei denen es hauptsächlich darauf ankommt, zu bemerken, wenn man durch einen Gedanken, einer Empfindung oder einem Gefühl abgelenkt und vereinnahmt ist. Vollkommen beansprucht von einem inner chatter, wie wir es vermutlich alle gut kennen. Die Ablenkung, den Gedanken oder die Emotion bemerken und loslasssen. Ihm nicht weiter nachhängen, sich aber auch nicht dagegen wehren. Vor allem sich nicht dafür schämen, schelten oder preisen. Einfach loslassen.

Bei den Morning Pages ist es dann statt loslassen: einfach hinschreiben. Im Hinschreiben lässt man dann schon beinahe automatisch los.

Was ist mit den negativen Gedanken, ängstlichen Gefühlen, werden die nicht durchs Aufschreiben noch präsenter, noch stärker. Präsenter? Ja. Stärker? Eher nicht.

Durch das Aufschreiben werden diese Gedanken lediglich sichtbar. Kommen aus dem inner chatter heraus, stehen dann da plötzlich auf dem Papier und sind oft nicht so mächtig, wie man geglaubt hätte. Und ich kann einen neuen Blick darauf werfen, eine neue Perspektive, eine neue Haltung dazu einnehmen.

Und hier kommt dann auch der Nutzen für das eigene autofiktionale Schreiben ins Spiel. Erfahrungen, Ereignisse, Erlebnisse, Ängste, Wünsche, was auch immer, werden deutlich, darstellbar und formbar.

Écriture automatique

Vielfach werden Morning Pages mit den Begriffen Bewusstseins- und Gedankenstrom in Verbindung gebracht. Das ist richtig, wenn damit nicht die besondere Form des literarischen Schreiben gemeint ist, die auch unter dem englischen Begriff stream of consciousness bekannt ist. In diesen Texten wird eben nicht der eigene Bewusstseinsstrom zu Papier gebracht, sondern, die »ungefilterte« Gedankenwelt einer literarischen Figur. Ein hochartifizieller, bewusster Gestaltungsvorgang.

Morning Pages haben eher Gemeinsamkeiten mit dem automatischen Schreiben der Dadaisten und noch mehr mit der Écriture automatique. Ein Begriff und eine Art des Schreibens, den die Surrealisten um André Breton eingeführt haben. Damit ist eine Art des Schreibens gemeint, die völlig unzensiert vom Denken erfolgt. Eben automatisch. Breton empfiehlt im Surrealistischen Manifest, diese Art des Schreibens am besten in den frühen Morgenstunden, fast noch im Halbschlaf.

Auch diese Texte werden handgeschrieben, so schnell wie möglich und ohne Kontrolle durch den kritischen Verstand. Nichts wird verschwiegen, nichts ist tabu. Der einzige Fehler, der einem bei dieser Art des Schreibens unterlaufen kann, ist, dass man nicht unaufmerksam genug ist, und doch wieder anfängt, bewusst zu gestalten.

Unterwegs

Morning Pages werden nicht für Leser geschrieben. Sind keine Literatur. Aber Gedanken, Empfindungen, Emotionen ungezügelt in freiem Lauf des Stifts aufs Papier zu bringen, ist mehr als eine gute Übung.

Einer der vielleicht einflussreichsten autofiktionalen Texte des letzten Jahrhunderts verbindet die Form des automatischen Schreibens mit einem starken Gestaltungswillen. Jack Kerouacs 1957 erschienener Roman On the Road. Fast ohne Punkt und Komma, mit nur sehr wenigen Absätzen hat der damals Neunundzwanzigjährige den Roman in kürzester Zeit in die Schreibmaschine gehämmert. Um seinen stream of consciousness nicht mit dem Ein- und Ausspannen des Papiers zu unterbrechen, hatte er sich eine 37 Meter lange Rolle aus Schreibmaschinenpapier zusammengeklebt. (Die originale Rolle ist kürzlich für 2,43 Millionen Dollar ersteigert worden.)

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