Ein heißer Tag in Manhattan. Michael Greenberg sieht ein Polizeiauto vor seinem Wohnhaus parken. Dass oben zwei Polizisten damit beschäftigt sind, seine von Visionen geschüttelte Tochter zur Ruhe zu bringen, erfährt er erst später. Es ist der Beginn eines langen Weges, den er zu gehen hat, um sein Kind in die Wirklichkeit zurückzuholen. “Ich habe das Gefühl zu reisen, aber ohne Möglichkeit zur Umkehr”, sagt Sally. Ihr Vater folgt ihr auf dieser “Reise”, die sie unter anderem durch die Psychiatrie führt, hin zu einem halbwegs “normalen” Leben.
Michael Greenberg ist Schriftsteller. Er führt, wie es im Klappentet weiter heißt, ein mehr oder weniger geordnetes Leben in New York, als seine Tochter krank wird und die Welt um ihn ins Wanken gerät.
In der Reihe über autobiografisches Schreiben geht es heute also wieder um einen Text, der wie schon »Die Liebe in dunklen Zeiten« von Alina Bach eine psychische Störung aus der Sicht eines Angehörigen beschreibt. Bezeichnenderweise sind beide allerdings nicht nur Angehörigen, sondern eben auch Schriftsteller und wie Alina Bach schafft es auch Greenberg die chaotischen, beängstigenden, traumatischen Ereignisse einer psychischen Erkrankung in eine klare literarische Form zu bringen.
Michael Greenbergs Buch »Hurry Down Sunshine. A Memoir«, wurde 2008 von Other Press, New York herausgebracht. Die deutsche Übersetzung von Hans-Christian Oeser erschien 2009 bei Hoffmann und Campe, Hamburg unter dem Titel »Der Tag, an dem meine Tochter verrückt wurde. Eine wahre Geschichte«.
Sowohl der englische als auch der deutsche Untertitel weisen darauf hin, dass es sich um eine authentische Geschichte handelt, um einen literarischer Bericht aus dem eigenen Leben. Interessanterweise zitiert der Klappentext der Taschenbuchausgabe (dtv, München 2010) eine Rezension aus der Welt, in der es heißt, das Buch wirke »in seiner Detailfülle und seinen tiefgreifenden Charakterstudien eher wie ein geglückter Roman denn wie eine Reportage«.
Das soll hier noch weiter interessieren.
Geschichte und Erzählung
Es ist in meinen Augen sehr beeindruckend, wie Greenberg die dramaturgischen Fäden seiner Geschichte in der Hand behält.
Das Buch hat drei Teile, denen ein Vorwort vorangestellt und ein Postskriptum angehängt ist. Beide sind etwa nur gut eine, bzw. zwei Seiten lang.
Das Vorwort endet mit Greenbergs Vorstellung »Zeuge einer seltenen Naturgewalt zu sein, wie ein heftiger Schneesturm oder eine mächtige Flut, verheerend, auf ihre Weise aber auch grandios.«
Das Buch ist nun der gelungene Versuch, diese Erfahrung einer übermächtigen Naturgewalt in eine ästhetische Form zu bringen. Und diese Erfahrung damit gleichzeitig aushaltbar, mitteilbar und — ja auch — genießbar zu machen.
Um es mal pointiert auszudrücken, Greenberg macht aus einer schlimmen Geschichte eine gute Erzählung. Nicht nur, aber auch, weil er sie so gut strukturiert.
Da der Autor Michael Greenberg selbst die Hauptfigur der Erzählung ist, nenne ich zur Unterscheidung die erzählende Figur im Folgenden bei ihrem Vornamen »Michael« und den Autoren bei seinem Nachnamen »Greenberg«.
3-Akt-Struktur
Die drei Teile des Buchs folgen der klassischen 3-Akt-Struktur. Also der Entstehung, der Entwicklung und der Lösung eines Konflikts.
Sie nehmen, auch wieder ganz konventionell, jeweils etwa ein Viertel, die Hälfte und wieder ein Viertel vom Umfang des Buches ein.
Im ersten Akt, nein schon im ersten Abschnitt stellt Greenberg das setting, die Wohnung, die Verhältnisse der Hauptfiguren untereinander dar. Michael wacht in einer stickigen heißen, (die Klimaanlage ist ausgefallen) Wohnung auf. Beide Menschen, mit denen er zusammenlebt, nämlich seine zweite Frau Pat und seine fünfzehnjährige Tochter Sally, »das ›Greifbarste‹«, das er aus erster Ehe in die neue Beziehung eingebracht hat, sind nicht da. Schon im zweiten Absatz steht dann der Satz, der wie ein Omen den kommenden Konflikt andeutet. »Sally wird wohl das Gefühl gehabt haben, sich ins Freie retten zu müssen, um überhaupt atmen zu können.«
Dann tritt das auslösende Ereignis ein. Der Anstoß der Geschichte. Sally wird von einer Psychose überrollt.
Obwohl es in der Geschichte um Sally geht, die von einer Psychose heimgesucht wird, ist in der Erzählung Michael selbst der Hauptprotagonist. Er ist die handelnde Person. Er ist derjenige, der den Konflikt lösen muss, lösen will.
Mit der Psychose seiner Tochter trifft Michael ungerechtfertigtes Leid. Das macht ihn zu einer Figur, mit der sich die Leser*innen identifizieren können. Er verliert etwas, das ihm nicht weggenommen werden darf. Seine Tochter. Und damit ist auch das klare Ziel gesetzt. Sein Ziel ist es, Sally der Psychose zu entreißen, sie zurückzubekommen. Er will die Tochter zurückholen.
Die Weigerung und erster Wendepunkt
Auf den Anstoss folgt unvermeidlich zunächst die Weigerung. Michael will die Schwere der Krankheit nicht anerkennen, glaubt, ja hofft, dass es sich nur um einen durch Drogen ausgelösten schlechten Trip handelt.
Am Ende des ersten Teils muss er allerdings einsehen, dass der Konflikt, der Antagonist, die Psychose nicht von allein verschwinden wird. Er muss handeln.
Es kommt zum ersten Wendepunkt. Er unterschreibt die Einweisung Sallys in die geschlossene Abteilung der Psychatrie.
Damit beginnt der zweite Teil des Buches, der zweite Akt, der etwa die Hälfte des Buches einnimmt. Hier wird der Konflikt ausgetragen, der Versuch, Sally zurückzugewinnen.
Die große active question der Erzählung ist jetzt klar. Wird es Michael gelingen, Sally irgendwann wieder mit nach Hause zu nehmen? Wird sie je wieder in die Normalität zurückfinden?
Entwicklung der Figuren durch Weglassen.
Greenberg beherrscht die Kunst des ökonomischen Erzählens. Er gibt von den Protagonisten nur soviel preis, wie an dem jeweiligen Punkt der Erzählung unbedingt nötig ist. Die Charaktere entwickeln sich erst nach und nach im Laufe der Erzählung und verdichten sich zu den »tiefgreifenden Charakterstudien«, von denen in der oben genannten Rezension in der Welt die Rede ist.
Die Nebenstories
Zu diesem Zweck webt Greenberg mehrere untergeordnete Nebenstories in die Hauptstory ein. Sie bringen oft zusätzliche Probleme und verschärfen den Hauptkonflikt. Vor allem aber dienen sie dazu, die Hauptprotagonisten zu charakteriesieren. Sie verleihen ihnen eine facettenreiche Tiefe.
Erst am Ende des ersten Aktes etwa erfahren wir, dass Michael einen Bruder hat, der auch unter psychischen Störungen leidet, und um den Michael sich seit Jahren als dessen Betreuer kümmert. Wie diese Geschichte von Steve werden alle Nebenstories übrigens mit der gleichen dramaturgischen Strenge erzählt, wie die Hauptstory. Auch sie haben also alle eine Exposition, einen Entwicklung und eine Auflösung.
Weitere Nebenstories sind die Geschichte der Chassidim mit ihrem psychotischem Bruder Yankel. Pats Arbeit als verantwortliche Choreographin einer Tanzkompanie. Die Unsicherheit der Wohnsituation. Die Ehe von Helen und Bernie und deren fünf Söhne.
Die Pausen
An mehreren Stellen nimmt Greenberg Tempo aus der Erzählung. Etwa, wenn er die Geschichte James Joyce’ und dessen Tochter Lucia in seiner Erzählung einwebt. Diese Einschübe oder Exkurse dienen gewissermaßen als Pause für die Leser*innen, die dadurch Gelegenheit bekommen, über die möglichen Implikationen und den Ausgang der Geschichte nachzudenken.
Das Cocktailgespräch
Dabei baut Greenberg als zentralen Punkt im zweiten Akt ein langes klärendes Gespräch zwischen Michael und seiner Mutter Helen ein. Hier erfährt Michael und die Leser*innen die Gründe, weswegen Steve unter derartigen psychsosozialen Störungen leidet. Und auch, dass Michael aus dieser Perspektive nicht für Sallys Psychose verantwortlich ist. Obwohl diese Erkenntnis keinen direkten Einfluss auf Sallys Zustand hat, schließt sich gleich der zweite Wendepunkt an. Sally kann entlassen werden.
Der dritte Akt
Mit dieser freudigen Nachricht geht es in den dritten Teil des Buches, der von Sallys Rückkehr in die Welt erzählt. Es bleibt immer noch die Frage, wird Sally jemals wieder in die Normalität zurückfinden. Zur Schule gehen können.
Aber natürlich kann es im dritten Akt nicht einfach kontinuierlich aufwärts zu einem happy end kommen. Auch im dritten Akt gibt es noch einmal einen Wendepunkt. Einen Höhe- bzw. Tiefpunkt an dem sich entscheidet, ob der Protagonist sein Ziel erreicht oder nicht.
Die Nebenstories um Steve, die Tanzchoreographie, die Wohnsituation spitzen sich zu und verschärfen den Konflikt um Sallys Genesung. Es kommt zum absoluten Tiefpunkt für Michael. Er schlägt Pat, verwüstet die Wohnung, wieder rückt Polizei an. Michael scheint alles zu verlieren, den Kampf um seinen Bruder Steve, die Wohnung, Pat und auch Sally.
Und erst nach diesem absoluten Tiefpunkt können die Geschichten von Steve, Pat und Sally zu einem versöhnlichen Ende geführt werden.
Der Epilog
Das Postskiptum gibt dann Auskunft über die offene Frage, wie es mit Sally nach der Auflösung des Konflikts, nach der Erzählung weiter ergangen ist.
Als Greenberg Sally davon erzählte, er schreibe »ein Buch über den Sommer ihres ersten Zusammenbruchs, erwiderte sie: ›Es gefällt mir, dass du soviel über mich nachdenkst.‹ Und nachdem sie eine Weile überlegt hatte, fügte sie hinzu: ›Ich möchte, dass du meinen richtigen Namen verwendest.‹«
Michael Greenberg ist mit diesem Buch gelungen, was in meinen Augen einer der wesentlichen Bedeutungen aller Kunst ist. Die Möglichkeit aufzuzeigen, inmitten der Schönheit und der Schrecken der Welt zu leben.
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