Autobiographisches Schreiben

AUTOBIOGRAPHISCHES SCHREIBEN #17 WILLIAM STYRON

10. Oktober 2019
William Styron Darkness Visible

Liebe Leser*innen, liebe Autor*innen, heute soll es in dieser Reihe über autobiographisches Schreiben um Darkness Visible von William Styron gehen. Der Text ist 1989 zunächst als Artikel in Vanity Fair erschienen. Dann 1990 um einige Passagen ergänzt als Buch bei Random House.

William Styron

Eine deutsche Fassung hat Kiepenheuer und Witsch 1991 unter dem Titel Sturz in die Nacht. Geschichte einer Depression in der Übersetzung von Willi Winkler herausgebracht.

Wieder ein Buch über Depressionen?

Nach Alina Bach und Thomas Melle wieder ein Buch über Depressionen?

Ja. Vor ein paar Tagen habe ich erfahren, dass sich eine ehemalige Kommilitonin das Leben genommen hat. 1978 sind wir in einer Klasse auf der Kunstakademie. Kommen aus derselben Stadt. Haben die gleiche Zuversicht und ähnliche Zweifel. Wir geben uns wackeligen Halt.

Auf der Suche nach Gründen für ihren Suizid kommt man schnell darauf, dass es schwer ist mit der Kunst, von der Kunst zu leben. Ja, es ist schwer. Manchmal auch unmöglich. Schwer von der Kunst, mit der Kunst, trotz der Kunst zu leben. Und es ist vielleicht noch schwerer ohne die Kunst.

Wenn bei ihr aber mangelnder Erfolg der Grund gewesen sein sollte, was war es dann bei Styron?

William Styron

William Styron ist Pulitzer Preisträger. Den bekommt er schon mit vierzig. Zwanzig Jahre später, es ist Sommer 1985, erfährt er, dass er mit dem Prix mondial Cino Del Duca für sein Lebenswerk ausgezeichnet werden soll. Auf der Reise zur Preisverleihung, so schreibt er in Darkness Visible, wird er zum erstenmal fully aware that the struggle with the disorder in my mind — a struggle which had engaged me for several month — might have a fatal outcome.

An mangelndem künstlerischen Erfolg kann es nicht gelegen haben. Er ist sechzig Jahre alt. So alt wie meine Studienfreundin werden sollte.

Auch sein Buch Darkness Visible ist nicht nur beim Publikum auf enormes Interesse gestoßen, sondern auch bei Fachleuten. Therapeuten und Medizinern. Es ist zu Schulungszwecken eingesetzt worden und an Angehörige ausgegeben worden, um ein besseres Verständnis für die Depression und die von Depressiven Heimgesuchten zu vermitteln.

Depression Memoirs

Darüber hinaus ist der große Erfolg von Darkness Visible sicher auch dafür mitverantwortlich, dass sich mit den Depression Memoirs eine — man könnte fast sagen — eigene literarische Kategorie herausgebildet hat.

In diesem Beitrag soll es um drei allgemeine Aspekte des Buches gehen, die auch für andere autofiktionale Texte von Bedeutung sind.

1. Der Schreibanlass.

Eigentlich sollte es eine Selbstverständlichkeit sein, dass man zunächst einen triftigen Anlass braucht, um etwas aus seinem Leben aufzuschreiben. Und zwar in einer Form, die dazu bestimmt ist, es anderen mitzuteilen. Stellung zu beziehen. Eine neue Sicht in die Welt zu bringen, oder eine bestehende zu bestärken.

Ob das auf einem Blog, in einem Vortrag, Artikel oder Buch geschieht, spielt da zunächst keine Rolle.

Styron hat seinen Text in unterschiedlichen Fassungen in verschiedenen Formen publiziert, als Vortrag an der John Hopkins University School of Medicine in Baltimore, dann wie schon erwähnt, als Zeitungsartikel in Vanity Fair und schließlich als Buch bei Random House.

Der eigentliche Anlass mit seinen Erfahrungen an die Öffenlichkeit zu gehen war, so heißt es, die öffentliche Reaktion auf den Selbstmord Primo Levi’s. In der New York Times war damals zu lesen, dass Levi als Auschwitzüberlebenden dieser Suizid von einigen Kritikern als Charakterschwäche ausgelegt wurde. Styron schrieb auf Grundlage seiner eigenen Erfahrungen mit Depressionen, Selbstmordabsichten und den Möglichkeiten einer »Heilung« eine zornige Replik unter dem Titel Primo Levi Need Not Have Died.

Styron hat also einen klaren Anlass, eine deutliche Mitteilungsabsicht und eine Zielgruppe, als er Visible Darkness verfasst.

Daher versucht er, das Unbeschreibliche in Worte zu fassen.

2. Die Beschreibung des Unbeschreiblichen

Es ist Medizinern, Angehörigen und Betroffenen bekannt, dass fast allen unter Depressionen leidenden Menschen, kaum oder gar nicht mitteilen können, wie sich Depressionen anfühlen.

Auch für Styron ist es a disorder of mood, so mysteriously painful and elusive (…) as to verge close to being beyond description. Also mysteriöse Weise, schwer fassbar und fast unbeschreiblich ist. Aber eben nur fast.

Das Schlimmste, was einer Schriftsteller*in passieren kann, ist wahrscheinlich, etwas nicht in Worte fassen zu können, dass etwas unbeschreiblich ist, dass sie sprachlos ist.

Als Schriftsteller sucht Styron also das Unbeschreibliche zu beschreiben. Er möchte schon das für ihn verharmlosende Wort »Depression« gern ersetzen. Am liebsten durch Brainstorm, wenn dieser Begriff nicht schon anders und sehr positiv besetzt wäre.

Denn er fühlt the howling tempest in the brain. Oder fühlt sich verschlungen by a toxic and unnameable tide. Naturvergleiche und Wettermetaphern sind das hervorstechende sprachliche Mittel, das Styron für die Beschreibung des depressiven Gemütszustands findet. Brüllende Stürme im Hirn, Dunkelheit und unausprechlich giftige Fluten, die einen zu ertränken suchen.

Diese Metaphern erfüllen zwei charakteristische Funktionen: zum einen sind sie so offen, uneindeutig und auslegungsfähig, dass sie ein breites Spektrum von Erfahrungen abdecken können. Zum anderen sind sie allgemeinverständlich. Sie finden sich so oder ganz ähnlich auch im normalen Sprachgebrauch und können daher leicht von einem breiten Publikum verstanden werden.

3. Authentizität und dramatische Form

Styron berichtet offensichtlich sehr authentisch und offen über seine Depressionen und ihren Verlauf. Er ist allerdings auch genug Schriftsteller, um dem ganzen eine konsistente dramatische Form zu geben.

Deas Buch beginnt im Gegensatz zum Artikel in Vanity Fair mit der Reise nach Paris zur Preisverleihung. Im Vorwort erwähnt Styron, dass diese Reise für ihn eine besondere Bedeutung im Verlauf seiner Depression hatte, er sie aber aus Platzgründen nicht in den Zeitungsartikel aufnehmen konnte.

Die Reise des Helden

Diese Reise hat im Buch natürlich auch eine dramaturgische Funktion. Sie markiert gewissermaßen den Beginn der Reise des Helden. Hier tritt Styron, jetzt der Protagonist der Erzählung, nach einer Weigerung aus seiner gewohnten Welt in die Welt der Depression. The reluctance to accept the reality that my mind was dissolving, I had avoided seeking psychiatic aid. Ich möchte das Buch hier nicht spoilern, aber es ist interessant, zu beobachten wie:

  • der Held aus seiner gewohnten Welt geworfen wird,
  • die Herausforderung zunächst nicht anerkennen will,
  • auf seiner Reise von falschen Freunden auf den falschen Weg gebracht wird,
  • sich auf den Tiefpunkt zubewegt,
  • dann eine überraschende, dramaturgisch überhöhte Wendung nimmt,
  • im Grunde von den guten Geistern der Kunst gerettet wird,
  • worauf er dann in einer Art »Lothlorien« landet
  • und mit dem Elixier zurückkehrt.

Interessant ist auch, dass sowohl Styrons Frau, als auch seine Tochter geäußert haben, dass sich die dramaturgisch entscheidenden Wendepunkte in Visible Darkness in der Realität anders abgespielt haben.

Styron hat also an den entscheidenden Plotpoints zum zweiten und zum dritten Akt dramaturgisch eingegriffen und die realen Abläufe, wie sie die Familienmitglieder wahrgenommen haben, etwas gestiftet. Mag sein, dass er es eben anders in Erinnerung hatte, es schon damals anders wahrgenommen hat. Mag aber auch sein, dass er es zugunsten der Dramaturgie getwistet hat.

Ob man Styron das aus einem puristischen Wahrheitsanspruch vorwerfen mag oder doch die dramaturgische Bearbeitung und Zuspitzung für angemessen hält, möchte ich dahingestellt sein lassen.

Nein, möchte ich nicht: Ich finde die dramatisierte Form grandios. Auch wenn es im echten Leben manchmal anders aussieht.

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