Autobiographisches Schreiben

Autobiographisches Schreiben – #1 Übertreiben und Erfinden

22. Mai 2019
Uebertreiben und Erfinden

Übertreiben und Erfinden

Liebe Leser*innen, liebe Autor*innen, kurz vor der Sommerpause möchte ich euch schon mal neugierig machen auf meine neue Blogreihe zu autobiographischem Schreiben und zu autobiographischer Fiktion. Wenn ihr nicht nur gerne Autofiktion lest, sondern euch vielleicht selbst mit dem Gedanken tragt einen autobiografischen Text zu schreiben, seid ihr hier richtig.

In dieser Blogreihe möchte ich

  1. einige autobiographische Romane besprechen
  2. andere autobiographische Textgattungen, wie Lyrik, Songs, Graphic Novels etc.vorstellen
  3. und vor allem möchte ich euch auf 7 Stilmittel autofiktionaler Literatur aufmerksam machen, die ihr euch in euren eigenen Texten zu eigen machen könnt.

Mir ist aufgefallen, dass sehr viele Bücher, die ich in letzter Zeit gelesen habe, oder die noch neben meinem Bett oder auf meinem Reader liegen, autobiographisch sind. Dabei sind es keine Autobiographien im eigentlichen Sinne (außer vielleicht »Waging Heavy Peace« in der Kindle Deluxe Ausgabe von – dem bei mir allgegenwärtigen – Neil Young). Wobei wir bei der ersten Frage sind, was unterscheidet denn eine Autobiographie von autobiographischer Fiktion, von einem autobiografischen Roman zum Beispiel.

Frage: Autobiographie, was ist das?

Scheint ganz einfach zu beantworten. In einer Autobiographie beschreibt jemand rückblickend aus seinem Leben. Es wird die ganze Lebensgeschichte bis zum Zeitpunkt der Niederschrift dargestellt. Oft wird dabei auch noch die Geschichte der Vorfahren angerissen. Es liegt auf der Hand, dass eine Autobiographie einen gewissen Objektivitätsanspruch hat.

Dennoch fließt natürlich die subjektive Wahrnehmung des eigenen Lebens und der damit verbundenen Ereignisse immer in eine Autobiographie ein.

Nicht anders als bei einem Gespräch, bei dem man auch Dinge weglässt, hervorhebt, übertreibt, runterspielt oder vielleicht auch ein wenig verdreht. Je nach Gesprächspartner und je nachdem, was man mitteilen will. Autobiographien sind eben nicht selten auch Rechtfertigungsschriften.

Ich denke, es ist schlichtweg unmöglich, das eigene Leben im Rückblick objektiv zu erzählen. Erinnerungen verändern sich und Ereignisse werden im Laufe des Lebens unterschiedlich bewertet. In der Autobiographie wird das eigene Leben also immer auch neu inszeniert. Die Frage ist, ob und wieweit es dem Autor bewusst ist.

Antwort: Dichtung und Wahrheit!

Goethe hat seine Autobiographie gleich »Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit« genannt. Es handelt sich also nur um einen Teil seines Lebens, genauer gesagt: aus seiner Jugend von 1749 bis 1775. Und es handelt sich, wie der Titelzusatz besagt um Wahrheit, aber eben auch um Dichtung, also Erfindung, Inszenierung, Verdichtung von Ereignissen. Goethe selbst nennt es in der Einleitung ein Märchen. Als Begründung für die Niederschrift dieser Erinnerungen nennt er übrigens die vielen Nachfragen, die in erreicht hätten. Eine Phrase die noch heute mancher YouTuber vor sein nächstes Tutorial stellt.

Ich bekenne hier gleich, ich hatte nicht viele Anfragen eurerseits, die mich zu dieser Blogreihe angeregt hätten. Ich habe allerdings nicht nur gerade sehr viel autobiographische Fiction gelesen, sondern schreibe selbst auch gerade an einem autobiographischen Text. Und sowohl unsere Graphic Novel »Atem holen«, als auch mein Gedichtband »Station|UC« sind weitgehend autobiographische Bücher.

Übertreiben und Erfinden

Nahezu alle autobiographischen Romane, die ich in dieser Blogreihe besprechen möchte, reflektieren die Diskrepanz zwischen Objektivitätsanspruch und subjektiver Sichtweise auf Lebensereignisse. Manchmal auch einfach der Dramaturgie geschuldeter Überhöhung und Verdichtung.

Sehr schön drückt es Saša Stanišić in seinem autofiktionalem Roman »Herkunft« aus:

»Früher hatte Großmutter behauptet – da war ich zehn oder fünf oder sieben –, ich würde niemals täuschen und lügen, sondern immer nur übertreiben und erfinden. Den Unterschied kannte ich damals noch nicht (will ihn auch heute nicht immer kennen), ich mochte aber, dass sie mir zu vertrauen schien. (…) (Später) bekräftigte sie noch mal, es immer gewusst zu haben: ›Erfinden und übertreiben, heute verdienst du sogar dein Geld damit.‹«

Wenn der kleine Saša der Oma Geschichten aufgetischt hat, scheint die Großmutter sich wohlwollend mit Übertreibungen und Erfindungen abgefunden zu haben, gut damit leben zu können, vielleicht sogar ein wenig stolz auf ihren Enkel zu sein. Dass er jetzt in den Augen der Großmutter sogar sein Geld damit verdient, ist ein eleganter Hinweis an den Leser, dass er hier eben vermutlich auch keine Täuschungen oder Lügen liest, aber vielleicht doch Übertreibungen und Erfindungen. Für Stanišić ist eine objektive Darstellung der Ereignisse nicht möglich. An einer Stelle platzt es förmlich aus ihm heraus:

»Ich habe das Betrügerische der Erinnerung satt und das Betrügerische der Fiktion allmählich auch.«

Auslassungen

Dabei ist für einen biographischen Roman fast noch wichtiger, was weggelassen wird an Erinnerungen, Ereignissen, Erzählsträngen, als das, was hervorgehoben, vielleicht übertrieben, verdichtet und dazuerfunden wird. Was ist das Thema, what’s it all about ist auch hier die entscheidende Frage, welche Entwicklung macht der Held, der in diesem speziellen Fall mit dem Autor übereinstimmt.

Oft sind es traumatische Lebensereignisse, die zu einem biografischen Text/Roman Anlass geben. Der Text kann/soll vielleicht das Unbegreifliche begreifbar machen. Die erste Reihe der Bücher, die ich hier besprechen möchte, drehen sich um Depressionen, Alkoholismus und Vertreibung. Schwere Kost, ja zum Teil, aber nicht selten eben auch uplifting in der künstlerischen Auseinandersetzung, ihrem Lebensmut und ihrer schriftstellerischen Brillanz.

Auf meiner vorläufigen Liste stehen:

  • Saša Stanišić: Herkunft, Luchterhand, München 2019
  • Isabell Lehn: Frühlings Erwachen, S. Fischer, Frankfurt/Main 2019
  • Tomas Espedal: Biografie, Tagebuch, Briefe, aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel, Matthes & Seitz, Berlin 2017
  • Merethe Lindstrøm: Aus den Winterarchiven, aus dem Norwegischen von Elke Ranzinger, Matthes & Seitz, Berlin 2018
  • Thomas Melle: Die Welt im Rücken, Rowohlt Berlin, Berlin 2016
  • Anna Bach: Die Liebe in dunklen Zeiten, DuMont Buchverlag, Köln 2017
  • Delphine de Vignan: Das Lächeln meiner Mutter. Aus dem Französischen von Doris Heinemann, Droemer, München 2013

Und welches ist euer liebster autobiographischer Roman?

Am 26. Juni geht’s nach der kurzen Sommerpause los mit: Frühlings Erwachen von Isabelle Lehn.

Bis dahin fröhliches Lesen oder auch Schreiben

Uwe 

 

    Leave a Reply