Autobiographisches Schreiben

AUTOBIOGRAPHISCHES SCHREIBEN – #10 SAŠA STANIŠIĆ

21. August 2019
Stanišić

Liebe Leser*innen, liebe Autor*innen, in der Reihe über autobiografisches Schreiben geht es heute um Herkunft von Saša Stanišić, erschienen bei Luchterhand, München 2019.

Stanišić

Ich gebe zu, dieses Buch gehört zu denen, die mich überhaupt auf den Gedanken gebracht haben, diese Reihe über autobiographisches Schreiben zu beginnen. Es ist unglaublich, wie virtuos Stanišić mit Sprache umgeht. Wie kurz und lapidar und präzise er schreibt.

Beispiel?

Er besucht gerade seine Großmutter, hat ihr stolz sein neues Buch präsentiert. Die Großmutter drapiert es auf einer Blumenvase.

Und dann kommt der Satz mit dem Geldverdienen.

Weil vermutlich jeder Heranwachsende diesen Satz schon einmal gehört hat, lässt Stanišić ihn gar nicht mehr von seinem Protagonisten aussprechen.

Ich möchte aber in dieser Reihe, wie ihr wisst, keine Rezension schreiben. Gar nicht so sehr auf den Inhalt eingehen, möglichst nicht spoilern. In diesem Fall möchte ich im Wesentlichen auf drei Punkte aufmerksam machen:

1. Die großartige Verbindung der politischen Ereignisse mit der eigenen Geschichte.

2. Die Nutzung unterschiedlicher Erzählebenen.

3. Die Reflektion der Möglichkeit aus Erinnerung und Fiktion Wahrhaftigkeit zu generieren.

Stanišić ist 1978 in Višegrad geboren, einer Stadt an der Drina im ehemaligen Jugoslawien. In einem Land, das es heute nicht mehr gibt. 1992 muss seine Mutter, eine muslimische Bosniakin, mit ihm vor den serbischen Truppen nach Deutschland fliehen. Der Vater wird erst später nachkommen.

Herkunft ist nicht das erste Buch, in dem Stanišić sich mit dem Trauma dieser Flucht, dem Zerfall Jugoslawiens und dem Ankommen in einem fremden Land auseinandersetzt.

Schon 2005 entstand die Erzählung: Was wir im Keller spielen. Und 2006 sein Debütroman Wie der Soldat das Grammofon repariert. Beides autofiktionale Texte, die vor dem Hintergrund der  Jugoslawienkriege angesiedelt sind und einmal aus der Sicht eines Kindes und dann aus der Sicht eines  heranwachsenden Flüchtlings geschrieben sind.

Wenn Stanišic den Irrsinn dieses Krieges und seine Auswirkungen beschreibt, bleibt er immer bei seinen eigenen Erfahrungen. Keine Berichte, keine Nachrichten, keine Ereignisse, bei denen er nicht unmittelbar anwesend war.

Um nicht zu spoilern, möchte ich euch zur Erläuterung der oben genannten Punkte nur auf einige Beispiele vom Anfang des Textes hinweisen.

Der kleine Junge, Politik und Fußball

In einem grandiosen Kapitel beschreibt Stanišić seine Liebe für die damals – ich erinnere mich noch sehr gut – großartige Mannschaft von Roter Stern Belgrad. Das Europapokalhalbfinale gegen die schon damals theoretisch unbesiegbaren Bayern sieht der Junge mit seinem Vater am Fernseher.

In der Halbzeitpause werden Nachrichten gezeigt. Es wird von Unruhen in Slowenien und Kroatien berichtet. Fußball und Krieg finden parallel statt. In einem, wie ich finde, genialen Sprachspiel weist Stanišic auf diese Absurdität hin.

Schüsse waren gefallen. Roter Stern schoss zwei Tore, die Bayern eins.

Zum Rückspiel fährt er mit seinem Vater nach Belgrad ins – damals in ganz Fußballeuropa berühmte – Marakana Stadion. Vielleicht das größte Stadion aller Zeiten mit 110.000 Plätzen. Seinen roten Fanschal lässt der Junge aus dem Autofenster wehen. Drei Tage später kommt es zu Kriegshandlungen in Slowenien. Aber der Junge macht sich mehr Sorgen um seinen verdreckten Schal.

Vor so etwas warnt dich ja keiner.

Noch unbedarfter als der Junge mit seinem ruinierten Schal, habe ich damals selbst vor dem Fernseher gesessen. Habe zu den Bayern gehalten. Wenn man auch die Bayern hasste, so viel deutsche Loyalität war dann doch da. Gegen die Yugos. Jetzt, wo ich es wieder lese, kann ich mich sogar an Augenthalers Selbsttor erinnern, bei dem ich vermutlich vom Sessel gerutscht bin. Und hatte keine Ahnung, dass dort gerade ein verheerender, für völlig unmöglich gehaltener, Krieg mitten in Europa losgeht.

Gerade dieses Schreiben aus der eigenen Perspektive hat mich besonders beeindruckt, weil es beim Lesen einen Perspektivwechsel hervorruft. Die geradezu absurde Parallelität der Ereignisse wird durch diesen engen Fokus besonders deutlich. Hier jubelt ein Stadion, ein kleiner Junge sieht das entscheidende Tor zwischen den aufgeregten Erwachsenen nicht, Spieler und Zuschauer unterschiedlicher Ethnien umarmen sich, während ein paar Kilometer weiter schon geschossen wird und noch ein paar Kilometer weiter ein zukünftiger Leser dieser Geschichte wegen eines Eigentors frustriert vom Sessel rutscht.

Ich könnte hier fast jeden Satz aus diesem Kapitel zitieren. Wer also sehen möchte, wie man – oder doch wohl eher wie Saša Stanišić – Weltpolitik und individuelles Erleben zusammenbringen kann, dem empfehle ich, zumindest dieses eine Kapitel zu lesen. Immer wieder.

Textebenen

Im zweiten Kapitel erfindet Stanišić einen Text An die Ausländerbehörde. Zur Erlangung der deutschen Staatsbürgerschaft sollte er der Ausländerbehörde einen handschriftlichen Lebenslauf vorlegen. Diese reale Aufgabe nutzt er nun, um die Leser mit einigen Fakten und Figuren vertraut zu machen. Er schreibt einen fiktiven Text, den er der Behörde so nicht vorgelegt hat.

Gleichzeitig reflektiert er die Möglichkeiten des Schreibens. Die Möglichkeit, durch Schreiben einer Form von Wahrhaftigkeit näher zu kommen.

Er beschreibt, wie er die Stationen seines Lebens aufzählt. Aber eine Aufzählung der Fakten reichen nicht hin:

Ich wusste, die Angaben waren korrekt, konnte sie aber unmöglich stehen lassen. Es kommt ihm so vor, als hätte das nichts mit ihm zu tun.

So kommt er der Wahrheit nicht näher.

An einer anderen Stelle reflektiert er die Auswirkung unterschiedlicher Wortwahl.

Ich änderte also Arsch zu Gesäß. Das kam mit aber falsch vor, und ich entfernte die ganze Info.

Ein falsch gesetztes Wort kann also, obwohl faktisch korrekt, die Darstellung eines Ereignisses oder Erlebnisses völlig falsch erscheinen lassen.

Erinnerung, Fiktion und Wahrhaftigkeit

Die Schilderung seiner Geburt etwa mag aus Erinnerungen, die ihm zugetragen wurden, gespeist sein. Es regnet, der Fluss ist wie in jedem Jahr zur Schneeschmelze über die Ufer getreten, ein heftiger Sturm brüllt, als die Wehen einsetzen. Ein sehr dramatisches Setting, das so  gewesen sein kann. Oder sich in der Erinnerung der Anwesenden so dramatisch festgesetzt hat. Immer wieder erzählt. Zur Legende geformt.

… und mitten in einer Wehe schlug noch ein Blitz ein, dass alle dachten, aha, soso, jetzt kommt also der Teufel in die Welt.

Mag sein, dass seine Mutter oder jemand anderes, ihm später erzählt hat, dass es wirklich so dramatisch war, und dass wirklich jemand das Bild des Teufels vor Augen hatte. Mag aber auch sein, dass Stanišić dieses Bild dramatisiert und damit wahrhaftiger macht. Das Mindset, in dem sich die Menschen dort in Višegrad 1978 befunden haben, genauer trifft. Auch wenn es vielleicht gar keinen Blitz gegeben hat.

Ganz genauso verhält es sich mit der brillanten Eingangszene, die ich jetzt hier nicht spoilern werde. Wenn man sich immer noch nicht das Buch zulegen möchte, ist sie ja in jeder Leseprobe online zu finden.

Es kommt nicht so sehr darauf an, ob diese Szenen sich genauso zugetragen hat oder nicht. Wichtig ist, wie Stanišić die Essenz einer solchen Szene herausarbeitet. Nicht ihre faktische – so ist es gewesen – Wahrheit, sondern ihre essenzielle – so stellt es sich dar – Wahrhaftigkeit darstellt. Und in diesem Fall gleich zu Beginn, ganz nebenbei den Tonfall des ganzen Buchs anklingen lässt.

Übertreiben und Erfinden

Seine Vorgehensweise legt Stanišić offen:

Wenn der kleine Saša der Oma später im Buch Geschichten auftischt, scheint die Großmutter sich wohlwollend mit Übertreibungen und Erfindungen abzufinden, gut damit leben zu können, vielleicht sogar ein wenig stolz auf ihren Enkel zu sein.

Sie bekräftigte noch mal, es immer gewusst zu haben: ›Erfinden und übertreiben, heute verdienst du sogar dein Geld damit.

Dass er jetzt in den Augen der Großmutter sogar sein Geld damit verdient, ist ein eleganter Hinweis an den Leser, dass er hier eben keine Täuschungen oder Lügen liest, aber vielleicht doch Übertreibungen und Erfindungen.

Für Stanišić ist eine objektive Darstellung der Ereignisse nicht möglich. Erst das Übertreiben und Erfinden machen die Schilderung des Erlebten wahr.

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