Rezension

„In der Tiefe des Tigris schläft ein Lied“ von Usama Al Shahmani

21. August 2025
"In der Tiefe des Tigris schläft ein Lied" von Usama Al Shahmani
„In der Tiefe des Tigris schläft ein Lied“ von Usama Al Shahmani

Usama Al Shahmani, In der Tiefe des Tigris schläft ein Lied „In der Tiefe des Tigris schläft ein Lied“ von Usama Al Shahmani habe ich gerne als Rezensionsexemplar angenommen, da ich schon „Der Vogel zweifelt nicht am Ort, zu dem er fliegt“ gelesen habe. Ein Buch, das mich mit seiner klaren Sprache und einer großen Ruhe überzeugt hat. Al Shamani schreibt wie Menschen sich Geschichten erzählen. Einfach, so dass jeder es verstehen kann, und gleichzeitig sehr genau. Keine Adjektive, die den Inhalt des Textes vernebeln, keine Worthülsen und Vergleiche, die oft weit hergeholt werden. Ich mag das sehr.

„In der Tiefe des Tigris schläft ein Lied“ ist allerdings anders als „Der Vogel …“. Shahmani erzählt diese Geschichte mit einem Kunstgriff. Denn ein großer Teil der Handlung wird durch Aufzeichnungen und Briefe vermittelt, die der Hauptprotagonist Gadi von seinem Vater erbt. Nach dem Tod des Vater – womit die Geschichte startet – beginnt er in den Heften zu lesen, taucht in in die Geschichte der Eltern ein und reist schließlich nach Bagdad.

„Gadi lebt in der Schweiz, aufgewachsen ist er in Israel. Wider Willen reist er ans Krankenbett des Vaters, nach seinem Tod bleibt ein unbequemes Erbe: eine Tasche mit Tagebüchern und Aufzeichnungen sowie der letzte Wunsch, die Hälfte seiner Asche solle in den Tigris gestreut werden. Dieser ihm unverständliche Wunsch führt Gadi mehr und mehr in die Geschichte seiner Familie zurück nach Bagdad, wo nach Pogromen 1940/41 ein Drittel der Stadtbewohner verschwand: die jüdische Bevölkerung Bagdads.“ (Limmat Verlag)

Geschichte und Familie

Er schließt die Augen. Warum kommt er hierher? Muss er den Vater wirklich besuchen? Schweigend starrt er aus dem Fenster. Als er zufällig sein Gesicht im Rückspiegel erblickt, erstarrt er. Die Zeit hat Spuren hinterlassen, er sieht plötzlich so aus, wie er seinen Vater in Erinnerung hat. (Seite 8)

Gadi hat kein gutes Verhältnis zu seinem Vater, hat ihn lange nicht gesehen, hadert mit ihm. Die Aufzeichnungen geben ihm die Möglichkeit, ein neues Bild auf den Vater zu gewinnen und zu verstehen, warum er damals so oder so gehandelt hat. Doch sein Vater schreibt nicht nur eine Art Tagebuch, er ist auch ein Chronist seiner Zeit. Und erzählt in seinen Heften von der Geschichte des Irak, von der Vertreibung der Juden, Plünderungen, politischen Umwälzungen. Das ist hochaktuell, denn die Konflikte im Irak dauern an.

„Heute bin ich vierundachtzig Jahre alt geworden. Ich bin das letzte Mitglied der Familie Mieche, das in Bagdad zur Welt kam. Und nach meiner Mutter werde ich das zweite sein, das nicht im Irak stirbt. Ich emp­finde mich als Hüter eines Bildes … “ (Seite 12)

Was man eigentlich weiß, wird in den Erzählungen und Schilderungen des Vater ganz besonders deutlich: Es gibt keine einfachen Lösungen, nur immer wieder neue Perspektiven, die wir einnehmen können und müssen.

Die Geschichte beginnt sich zu verschachteln, als Gadis Vater in seinen Aufzeichnungen von seinem eigenen Vater erzählt, von seiner Kindheit, seinen Erfahrungen. Den Abzug der britischen Kolonialmacht, das dem Land eine so große Hoffnung gab, die in der Folgezeit immer mehr enttäuscht wurde.

Geschichte und Politik

Die Verwicklungen und Machtwechsel im Irak zu vereinfachen, fühlt sich falsch an, gleichwohl war ich von der Menge der Fakts in den Aufzeichnungen des Vater, die Jahrhunderte umspannen, leicht überfordert. Auch, weil die Einschübe teils sehr viel länger als die Rahmenhandlung sind. Die Aufzeichnungen des Vaters sind weniger literarisch erzählte Geschichten, als der Versuch, Dinge zu erklären. Und es sind viele Dinge, die sich da aneinanderreihen.

Aber tatsächlich stellten wir, die Juden von Bagdad, an diesem Tag beim Aufwachen fest, dass wir zu Fein­den geworden waren. In der Nacht hatten vier iraki­sche Offiziere geputscht und die Regierung gestürzt. König Faisal II. und der Regent Prinz Abdullah flohen mit der Hilfe der Amerikaner aus dem Land. Der Nazi­ Sympathisant Raschid Algilani bildete eine neue Re­ gierung, er wurde Ministerpräsident. Sabawi Bahri erklärte sich zum Militärgouverneur von Bagdad. Er gab bekannt, dass die «Jugendorganisation» Alfutuwa Bagdad von seinem «inneren Feind» reinigen werde. «Dieser gefährliche innere Feind, der die Sicherheit und Existenz des Irak bedroht, sind die Juden», ver­kündete das Radio. «Die Iraker müssen ihre Augen öffnen und ihre Kräfte sammeln, um diesen Feind zu verbannen.» Die Zeitung «Alalam Alarabi» veröffent­lichte ein Foto von Algilani und schrieb darunter: «Ein großarabisches Reich zu gründen wäre möglich, wenn die arabische Nation einen Führer wie Hitler hätte.» (S. 36 aus den Aufzeichnungen des Vaters)

So vieles wird klar und gleichzeitig möchte ich dies lieber am Rande eines Leseerlebnisses googeln, dann, wenn ich Fragen habe, statt innerhalb kürzester Zeit Fakten, Namen und historische Ereignisse aufnehmen zu müssen.

Besonders, da ich mich  in der Geschichte des Nahen Ostens nicht besonders gut auskenne. Und sicher, es wäre gut, sich besser auszukennen. Ich habe Geschichte studiert – aber selbst damals musste ich einen Schwerpunkt legen.  Hier hat Al Shamani für mich nicht die beste literarische Form gefunden. Anders gesagt: Es sind viel zu viele Informationen, die irgendwann die Rahmenhandlung zurückdrängen.

Fakten und Literatur

Dass dies etwas ermüdend wird, liegt auch daran, dass die Aufzeichnungen des Vaters wie Zitate sind, die ohne eigenen Spannungsbogen erzählt werden. Natürlich sind es Fakten und Ereignisse, die ich auch nicht verbogen sehen möchte. Nur sind politische und historische Ereignisse eher Momente. Ihnen fehlt der Spannungsbogen, den eine Geschichte braucht. Und leider kann das auch die Rahmenhandlung nicht wirkliche ausgleichen. Auch sie verläuft eher vorhersehbar. Natürlich wird Gadi nach Bagdad reisen – was eine gute Möglichkeit ist, das heutige Bagdad zu schildern.

«Zakai schrieb über sein Bagdad wie über einen Talisman, der ihn davor bewahrte, sich vollständig zu verlieren», sagt Gadi. «Sosehr ihn der Verlust
auch schmerzte, so fand ich doch kaum ein Urteil darin, keine Übertreibung, er erzählt einfach, was geschehen ist oder auch nicht. ‹Wenn die Wunde beschrieben wird, heilt sie›, hat er irgendwo notiert, in schöner arabischer Schrift, die zu lernen mir meine Mutter übrigens verboten hat.»
«Deine Eltern waren zwei besonders unglück­liche Überlebende der Katastrophe.»
«Ja. Die Katastrophe verband sie und trennte sie doch. Daher wohl das große Schweigen der beiden.» (Seite 156)

Und natürlich wird Gadi seinen Vater nach und nach besser verstehen, natürlich wird er ihm den letzten Wunsch erfüllen.

Fazit

Ich möchte das Buch dennoch vor allem geduldigeren Leser:innen als mir empfehlen. Denn es ist eine Möglichkeit, die über Jahrhunderte entstandenen Konflikte und Wunden des Iraks zu verstehen. Die Einmischung von Großmächten, die Jagd auf Minderheiten und die Radikalisierung.

Dass diese alles zu großen Teilen Al Shahmanis eigene Geschichte ist, berührt mich noch einmal besonders.

Ich danke dem Limmat-Verlag/re-book für die Bereitstellung des Rezensionsexemplars.

Usama Al Shahmani

Usama Al Shahmani, geboren 1971 in Bagdad und aufgewachsen in Qalat Sukar (Nasirija), hat arabische Sprache und moderne arabische Literatur studiert. Er publizierte drei Bücher über arabische Literatur, bevor er 2002 wegen eines Theaterstücks fliehen musste und in die Schweiz kam, wo er heute lebt und schreibt.

„In der Tiefe des Tigris schläft ein Lied“ von Usama Al Shahmani
  • Roman
  • gebunden, 224 Seiten
  • Et:21. August 2025
  • Limmat Verlag

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