Auf der anderen Seite - Traumtexte

#31 Vicuña

4. Mai 2022

Das Problem des Schriftstellers, überhaupt des Künstlers, ist doch, daß er sein ganzes werktätiges Leben versucht, auf das poetische Niveau seiner Träume zu kommen.
(Heiner Müller)

Intro und Textverzeichnis


 #31 Vicuña

Es riecht nach nasser Kohle und schmeckt nach kaltem, feuchtem Metall. Auf den Zähnen fühlt die Zunge einen staubigen Belag. Rückwärts will ich, soll ich, muss ich von dem Stahlpodest auf einen beweglichen Hubsteiger wechseln. Versuche hinter meinem Rücken mit einer Hand die Kette zu öffnen, mit der das Gestell abgesperrt ist und gleichzeitig die Jacke anzuziehen. Es geht nicht. Die Ärmel verheddern sich. Sind die verknotet oder zugenäht? Verknotet. Jemand hat in beide Ärmel Knoten gebunden. Fast wäre ich runtergefallen. Wie machen das die anderen? Die gar nicht wissen, wo es hingeht. Weiß ich es denn?

Endlich. Wir stehen zu mehreren auf dem Steiger. Er fährt ein paar Meter weg von dem Podest und dann nach unten, raus aus dem Flöz. Immer tiefer. Hunderte Meter. Eine Sohle nach der anderen leuchtet kurz auf und verschwindet nach oben. Ich wusste gar nicht, dass es so hohe Steiger gibt. Mitten in der Wand hält der Steiger an.
Wieder rückwärts muss ich mich das letzte Stück abseilen. Wieder mache ich hinter dem Rücken die Kette auf. Halte mich mit den Händen fest und lasse mich rückwärts aus dem Steiger kippen. Lasse los. Die Ärmel sind jetzt irgendwie mit dem Geländer am Steiger verbunden. Die Ärmel werden länger und dünner, ich falle immer tiefer gehalten von den Ärmeln. Sie dehnen sich, werden länger. Ein Knoten nach dem anderen erscheint. Es wird heller. Tageslicht unter mir und frische salzige Luft. Das Meer. Ich lasse die Arme aus den Ärmeln gleiten und lasse mich die letzten hundert Meter fallen. Auf den Strand. Leichte Wellen spülen über den groben Sand.

Auf einem Floß oder Schlauchboot mit der Oma und einem Siebzehn- nein Zwölfjährigen. Paddeln, lassen uns treiben. Es geht ganz gut, um ein Haus auf Stelzen herum. Wollen Proviant, oder nach dem Weg fragen. Die Frau sagt, wir können nicht weiter wegen des Wetters. Der Mann: Quatsch, geht schon. Hinten, weit hinten am Horizont ist eine Welle, Eisbachwelle, auf der Stelle. Sie wird größer. Es fängt zu regnen an. Es schüttet. Monsun. Wir können so nicht weiter.

Es gibt, glaube ich, zu essen. Ich gehe kurz in das kleine Kabäuzchen, den Anbau im Haus der Oma. Aufs Klo? Die Oma und andere, längst tote Verwandte kommen einfach rein. Sehen mich nicht. Oder ich bin nicht da. Lachen, sehen sich im Spiegel. Ich will mich erst zurückhalten, versteckt bleiben. Gehe dann doch raus. K. zu helfen. Wobei.
Alle sind fröhlich. Ich helfe irgendjemand bei irgendetwas. Und sage, dass wir hier einen Riesenstreit haben. Worüber?

Ah, ihr habt euch also getrennt. Wer redet da?
Die Stimme. Schreibst du mit dann dein weiß nicht was?
Nein, brülle ich, ich schreibe dir gar nichts.
Die Stimme ist sauer. Du musst mir eh alle Kopien bringen, deine Zeugnisse und alles. Was soll ich sonst schreiben?

Wie kommt sie darauf, dass wir uns getrennt haben. K. ist doch in den Bergen?
Ich sehe sie in einer großen langen Küche. In den Bergen. Tücher hängen zwischen den Pfosten, und von der Holzdecke dicke Seile oder Netze. Sie trennen Bereiche ab. Aber es stimmt. Es gibt Streit. Heftigen Streit. Über die Entfernung, aber es gibt doch keine Entfernungen mehr.
Der Streit ist noch in vollem Gange. Ach ich, ich gehe durch die hundert Meter lange Küche, um K. zu suchen.
Der Gang ist voll mit Leuten.

Ich gehe ein paar Mal hin und her, um die Lage zu checken. Zerreiße dann einen Stapel roter Papierservietten in der Mitte, als konspiratives Zeichen zum Aufstand. Ich wundere mich, wie leicht das geht. Zerreiße einen zweiten Stapel. Stecke mir alles in die Jackentasche. Ich komme nicht bis zum Ausgang. Zu viele Menschen.
Gehe wieder zurück. Nochmal. Diesmal grüne Servietten. Ich erkenne gleich: es ist das gleiche Rot. Nur in grün. Ganz genau die gleiche Farbe. Ich verstecke mich in einer der vielen Containertoiletten.

Dann gehe ich wieder los. Bin fast am Ausgang. Werde verfolgt. Aber sie haben keine Beweise. Ich laufe nach links. Da ist ein Tisch mit lauter vollgeschriebenen Servietten. Unsichtbares Rot auf grün. Das ist ein Beweis. Auf anderen niedrigen Tischen liegen noch mehr Servietten mit unsichtbarem Text. Alles Beweise.

Die Verfolger stürmen los. Aber an mir vorbei. Nach draußen.
Verfolgen andere. Es kommt zu einer Riesenschlägerei.
Ein LKW fährt los. K.O. Männer (daher kommt das Wort) sammeln Bewusstlose und schwer Verletzte ein, und die W.O. (heißt: heute oben) Männer auch. Die stehen in einem Gestell über dem Fahrerhaus des LKWs. Jeder für sich. Zerschlagen, blutig und halten sich so gut es geht an dem Geländer fest. Und:
Hinter dem Knochen wird gezählt.
Schmerzraum. Joseph Beuys

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