Auf der anderen Seite - Traumtexte

#13 Das Rennen

10. November 2021

Das Problem des Schriftstellers, überhaupt des Künstlers, ist doch, daß er sein ganzes werktätiges Leben versucht, auf das poetische Niveau seiner Träume zu kommen.
(Heiner Müller)

Intro und Textverzeichnis


 #13 Das Rennen

Ein Wald. Ein Waldweg. Baumwurzeln. Moos. Schwere, feuchte Luft. Alte, schon weit gelaufene Turnschuhe. Unter der Schlammkruste ist das Blau der Adidas Marathon Trainer aus meiner Egoshooter Perspektive kaum noch zu erkennen.
Im Traum läuft es sich leicht, fast schwerelos. Die Füße, die Knie haben kaum Gewicht abzufedern. Nur so viel, dass es sie am Boden hält. Unter den langen, eleganten Schritten sehe ich überdeutlich Waldgras, verrottetes und frisch gefallenes Laub, Moos und sogar vereinzelte unbekannte Pilze unter mir durchgleiten. Hin und wieder höre und spüre ich das Knacken eines kleinen Astes, wenn er von einer Sohle getroffen wird.

Ich kann nicht entscheiden, und die Frage stellt sich mir auch gar nicht, ob sich das Land vor mir hin und wieder in eine Talmulde senkt und vor mir ausbreitet, oder ob ich kurzeitig nach oben schwebe und einen Überblick bekomme. Aus Drohnen-, (früher sagte man wohl Vogelperspektive), sehe ich Menschen, die in einem Rennen vor mir laufen, schweben, fliegen, radfahren, dahingleiten. Ein Wettkampf, ein Spaß, ein Relikt aus der Zeit, als wir laufend gejagt haben, in Gruppen die Tiere zu Tode gehetzt, eine anthropologische Notwendigkeit?

Plötzlich spüre ich einen angenehmen Druck gegen meinen linken Oberschenkel. Ein Wildschwein. Ich sehe es nicht, rieche es aber. Ich drücke leicht dagegen, gleite jetzt auf Inlinern über die glatte Erde eines Feldwegs. Die Luft ist lau, cremigweich und dunkel über dem holprigen Asphalt, zu dem der Weg geworden ist. Ich schiebe mich bei jedem Schritt mit einem Curlingbesen an, mache richtig Tempo jetzt mit großer Leichtigkeit.

Der Druck am Bein wird stärker, drängt mich zur Seite. Es ist ein kleiner roter Tesla, der mir bis an die Hüfte reicht. Entweder bekommt der gar nichts mit oder versucht mich aggressiv zu ignorieren. Drängt und drängt. Ich bleibe ganz kurz stehen und er glitscht im rechten Winkel vor mir weg, schneidet meinen Weg auf der Suche nach einem Parkplatz. Er hat nicht gemerkt, dass ich ihn vorgelassen habe, statt ihn in das Feld zu kicken. Während ich wieder Schwung aufnehme, wendet er, — jetzt schon in einer parallelen Abteilung, einer anderen Seite des Waldtraums — und wendet wieder, fährt im Kreis, findet keine Lücke. Weit rechts hinter mir, in Höhe meiner Lendenwirbel dreht er sich im Pferdekarussell mit den anderen Autos. Rutscht mit den Hinterrädern aus der schlammigen Kreisbahn. Holpert rückwärts einen steilen Weg hinab und bleibt zwischen zwei Bäumen stecken, die das nicht interessiert.

Ich genieße meinen Lauf, werde überholt, und überhole andere. Gelbes Licht glänzt in Regenpfützen. Hier geht nie was ohne Regen. Er vermischt sich mit dem Schweiß in meinen Haaren, läuft über mein Gesicht, oder sind das Tränen? Dahinten ist das Ziel, jetzt bin ich ganz allein, wo sind all die anderen. Ich laufe mit den Skates in eine Hütte, eine Scheune. Ein paar Leute stehen an dem Brettertresen, Glückwunsch, du bist angekommen. Einer schreibt mit Kuli meine Zeit auf einen Block, einen großen Zettel. Bist du in einem durchgelaufen. Ich hab eine Kaffeepause gemacht. Er streicht etwas durch, schreibt eine neue Zahl. Sagen wir so zehn Minuten? Ist das eine Frage? Ich glaube nicht, hier geht es nicht um Präzision. Ich kann mich nicht erinnern wann und wie ich losgelaufen bin. War es ein Massenstart? Nein, ich denke alle sind zu ihrer Zeit gestartet und noch nichtmal in dem Wald wie ich. Und alle kommen auch hier an. Früher oder später.

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