Auf der anderen Seite - Traumtexte

#10 Tiger

20. Oktober 2021

Das Problem des Schriftstellers, überhaupt des Künstlers, ist doch, daß er sein ganzes werktätiges Leben versucht, auf das poetische Niveau seiner Träume zu kommen.
(Heiner Müller)

Intro und Textverzeichnis


 #10 Tiger

Aus dem Augenwinkel betrachtet werden rosa und rote Kreidefarben augenblicklich pudrig, als sie sich gerade von selbst über die Wände pinseln. Sie stauben aber zu meiner Überraschung nicht ab, als ich versehentlich mit dem Mantelarm dagegenstreife.

Das Zimmer ist aus dem anderen Augenwinkel betrachtet riesig. Die Wände sind gar nicht zu sehen. Sie bleiben hinter dem Dunst der Wahrnehmungsgrenze. Trotzdem (?) ziehe ich den blauen, hölzernen Puppenwagen rückwärts an der Puderwand entlang. Etwas scheint in der dicken Wolldecke eingewickelt zu sein. Ein frühgeborenes Baby. Der holprige Boden wackelt das gelbbraunorangene Kindergesicht aus der Decke heraus. Viel älter erwartet, greisenhaft. Findest du? Wie kannst du was erwarten, von dem du gar nichts weißt? Du hast es gesehen, ohne es zu sehen? Oder hervorgerufen? Entstehen lassen? Dieses uralte frischgeborene Kindergesicht.

Blaue Adern ziehen sich unter der dünnen Stirnhaut von den übergroßen Augen zu den eingefallenen Schläfen. Andere Linien verästeln sich. Pulsieren zwischen ein paar langen grauen Strähnen aus wenigen dünnen Haaren über den kahlen, zerbrechlichen Schädel bis zum Nackenansatz. Nacken ist ein viel zu fleischiges Wort für die zarte Stelle unter dem Köpfchen, an dem die Wirbelsäule ansetzt. Als wären der weinenden Maria, die Beine ihres gekreuzigten Babysohns vom Schoß geglitten, rutschen die Beinchen unter der Wolldecke hervor. Oder sind es etwa die unbrauchbaren Beinchen des toten Jungen, den Georg Minnes Skulptur beweint? Ich stopfe sie wieder unter das aufgebauschte Trauerkleid. Und da! Unter der Decke lächelt ein winziger Babymund. Zufrieden.

Es ist kalt und feucht, ein wenig moderig. Warum hab ich nur so einen dünnen Pullover an? Ich ziehe mich doch sonst immer so warm an. Mit klammen Fingern in abgeschnittenen Wollhandschuhen versuche ich, ein Platzhaltervideo in meine Webseite zu integrieren. Finde etwas wie Wer wird Millionär. Der Clip ist viel zu lang, wechselt von Günther Jauch zu einer Gruppe Anzugträger, vermutlich Politiker (es sind gerade Sondierungsgespräche). Da kommt der YouTube-Gag: zwei der Politiker, eine Oma und ihr Sohn kauen, ohne es zu merken, gleichzeitig auf ihrer Oberlippe herum und machen dann hinter ihren übergroßen Brillen die gleiche Grinsefratze mit zugekniffenen Augen und eingezogenen Lippen. Ich wache kurz von meinem eigenen Lachen auf, um zu bemerken, dass ich träume.

Der Junge aus dem Kinderwagen steht jetzt in Lendenschurz/Windel neben mir. Schaut mir über die Schulter. Im Video fliegen übergroße Fracks und Zirkusmäntel. Bei genauem Hinsehen sind lange, dünne Männer darin. Ein ausgelassener oder verzweifelter Tanz? Nicht mehr auf dem Bildschirm, sondern jetzt überall mit mir und dem langen, dünnen indischen Dschungelbabyjungen im Raum. Varieté, Manege, Tiere. Löwen, Pferde. Affen auch? Sitzen auf Elefantenhockern. Springen von Tigersockeln. Wir sind mitten drin. Gleichzeitig ist alles weit weg, sehr schnell und klein und nicht gut zu erkennen. Ich spule noch einmal zurück, um dem Jungen auf meiner Schulter den Clip von Anfang an zu zeigen. Dabei ist es alles real, kein Clip. Ich wundere mich kurz, dass ich trotzdem spulen kann.
Alles findet in diesem großen Raum statt, diesem weiten, hohen und gleichzeitig engen Gewölbe mit Wänden aus Zyklopenmauerwerk, wie unter einem Theater, einem Amphitheater, einer Arena. Ein überdimensionaler Tiger läuft in der Manege ruhig elegante Achten nah an uns vorbei, ohne Interesse. Ein fliegender Frackmann macht ein Eisenluke auf. Etwas schießt daraus hervor. Ein kleinerer, nicht einmal halb so großer Tiger. Der große Tiger erschrickt, zuckt weg, ist aber schon gebissen. Erst nicht zu sehen und er merkt es auch noch nicht. Doch dann blutet das Fell am Vorderlauf.
Ein halbstarker Löwe fällt aus dem Himmel vom Trapez, tänzelt, als wär nichts gewesen, als wäre alles so gewollt, mit Absicht. Die Tiger werfen sich auf ihn. Funfight? Oh, nein. doch nicht. Das ist ernst. Der Löwe heult auf, stellt sich tot, vergeblich, windet sich, macht sich los, kommt frei. Läuft nah an mir vorbei, streift mich mit dem Rest der harten Mähne. Das Fell ist ihm vom Kopf bis zu den Schultern abgerissen. Das rosa Fleisch, nah und groß, riecht nach Eisen und Blut.
Was machen die? Ich schalte den Clip schnell aus. Reiße die Augen auf. Der Junge reitet auf dem Löwen davon.

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