Auf der anderen Seite - Traumtexte

#4 Das Pferd

11. August 2021

Das Problem des Schriftstellers, überhaupt des Künstlers, ist doch, daß er sein ganzes werktätiges Leben versucht, auf das poetische Niveau seiner Träume zu kommen.
(Heiner Müller)

Intro und Textverzeichnis


 #4 Das Pferd

Es tropft von der Decke. Wasser rinnt an den verdreckten, rauen Betonwänden herunter. Sammelt sich in öligen Pfützen. Es hallt. Obwohl hier soviel Schrott im Weg liegt, scheint diese ewig lange Unterführung noch in Betrieb zu sein. Sicher nicht mit der ursprünglichen Bestimmung. Schienen sind kaum noch zu erkennen. Die meisten Lampen eingeschlagen. Weiter vorne huscht ein Schatten. Sammelt Petroleumlampen ein, die in Abständen provisorisch auf dem Boden stehen, wie Baustellenbeleuchtung. Nur das hier nicht gebaut wird. Nirgends.
Vielleicht noch fünfhundert Meter bis zu dem blassen Licht dahinten. Ein rechteckiges Stückchen Helligkeit, der Ausgang.
Plötzlich ein gequältes Quietschen. Verwitterte Stahltüren schieben sich schwer ins Bild. Ich habe den Lampensammler gerade überholt, schaue mich jetzt nach ihm um. Er versteht. Macht irgendeine Geste. Die Tore gehen langsamer zu. Ich nicke ihm zu. Danke. Er nickt zurück. Wir sollten uns beeilen. Wir rennen, schlüpfen durch das Tor, das aber nicht ein einfaches Tor ist, sondern ineinander verschachtelte Schiebekästen. Eine Schleuse nach der anderen. Wir drücken kommen gerade noch durch, ohne eingequetscht zu werden.

Dahinter Winter, Schneematsch. Tiefer Schneematsch über einer eingeschneiten Wintervegetation. Das trübe Licht blendet nach der langen Dunkelheit in dem Tunnel. Ich fühle Schotter, Eisenbahnschwellen, langsam erkenne ich auch Schienen. Blanke Eisenbahnschienen. Ein Zug. Ich steige aus dem Gleis. Da sind jetzt viele Gleise. Ein langer Industriezug kommt von hinten. Kein normaler Güterzug. Ein Tieflader nach dem anderen. Jetzt fährt er neben mir. Nur wenig schneller, als ich laufe. Auf jedem Waggon sind flache Stahlausleger montiert. Ich laufe neben dem Zug. Der Schatten weiter hinter mir. Die Ausleger schwenken aus. Über mich. Ich ducke mich. Ich denke noch: gefährlich, wie bei dem Tor gerade, da streift mich schon einer diese Kräne. Ich ducke mich tiefer im Laufen. Habe jetzt echte Angst, eingeklemmt zu werden. Die Ausleger fahren langsam runter. Ich krauche weiter. Ein Ausleger klemmt mich wirklich fest. Schleift mich ganz langsam mit. Senkt sich weiter. Das ist das Ende. Er wird mich zerquetschen. Ganz allmählich. Ich rufe, schreie. Auf den Gleisen zwischen den Zügen leben ein paar Arbeiter. Mit kleinen schwarzen Flaggen winken sie einem Stellwerk (?) hinten, unten in der Ferne zu. Ein hydraulisches Zischen (wie auf dem Rummel). Der Druck läßt etwas nach. Der Ausleger fährt ein paar Zentimeter hoch. Ich komme frei. Ich rolle mich zur Seite, schaue mich um. Gerettet. Springe hoch. Brülle den Lokführer an.

Will ihn anbrüllen. Niemand hört mich. Statt des Zugs sind jetzt Frachtkähne im Kanal. Liegen tief imWasser voller Schrott. Die Crew im Heck schaut sich nach mir um. Sie gehört schon zu dem nächsten Schiff und versteht nicht, was ich meine.

Ich muss zu der Ruine. Zu dem Stellwerk, Sperrwerk, Schleusenhaus, weiß nicht, ob das gut ist oder schlecht. Dahinten. Was wird mich da erwarten? Es scheint der einzige Weg hier raus. Obwohl es hinten unten ist, stapfe ich über Gleise und Gestrüpp, eingeschneiten Schrott und Spermüll einen Hügel hoch. Plötzlich der Kopf enes halb verwesten Pferds im Schnee.
Ein Red Dead Redemption Typ: Das wär mir fast verreckt. Hier gestern. Fast? Gestern?
Er gräbt das Pferde aus. Doch der Kadaver lebt tatsächlich noch. Ich gehe weiter. Da unter ein paar grauen Blättern liegt auch noch ein Menschenkopf im Sulz. Blass, blau. Hier wird alles entsorgt. Ich sinke bis zur Hüfte in den Sträucherschnee.

Der Typ überholt mich auf dem Pferd. Er reitet es im Stehen den Hügel auf der anderen Seite runter. Ich kann von hinten in das Pferd sehen bis an die hohlen Rippen. Am Ende des Hügels brechen ihm die Vorderbeine weg. Es stört den Reiter nicht. Das Pferd rutscht, kraucht und krabbelt weiter.

Ich wache lieber auf und nehme mir vor, die Schleuse demnächst mal zu besuchen.

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