Autobiographisches Schreiben

AUTOBIOGRAPHISCHES SCHREIBEN – #12 JIRO TANIGUCHI

4. September 2019
Taniguchi

Liebe Autor*innen, liebe Leser*innen, heute möchte ich in der Reihe über autobiographisches Schreiben einen kleinen Abstecher zur Graphic Novel machen, und zwar zu dem Album Der spazierende Mann von Jiro Taniguchi.

Jiro Taniguchi

In Japan wurde es 1990/91 kapitelweise in der Zeitschrift Shūkan Mōningu/Weekly Morning veröffentlicht.

Der spazierende Mann brachte Taniguchi (*1947-† 2017) den Durchbruch in Europa, zunächst 1995 in Frankreich, dem Mutterland des europäischen Comics und später dann auch in Deutschland.

Die deutsche Ausgabe erschien 2009 bei Carlsen in der Übersetzung von John Schmitt-Weigand, dem Lettering von Ronny Willisch und einem Nachwort von Andreas Platthaus.

Der Flaneur

Der spazierende Mann ist eine Apotheose auf den Flaneur. Auf die Figur, die im Gegensatz zum Wanderer, durch die Städte spaziert. Während der Wanderer sich durch die Natur zu Beobachtungen und Reflexionen anregen lässt, ist es beim Flaneur die Stadtlandschaft.

In 18 Kapiteln können wir einem jungen Mann folgen, der sich immer wieder durch die Stadt treiben lässt. Er redet so gut wie nie, er beobachtet, manchmal handelt er auch. Hebt einen vom Taifun zerbrochenen Starenkasten auf und repariert ihn. Kauft einen Weihnachtskuchen. Folgt seinen Impulsen. Wir erfahren nicht viel über diesen Mann. Er ist verheiratet, hat einen Hund und er geht spazieren.

Kann das dann überhaupt eine autobiographische Geschichte sein? Wir wissen nicht, wie der Mann heißt, was er beruflich macht, ist er etwas ein Mangaka? Nicht deutet darauf hin. Es bleibt auch unklar, in welcher Stadt wir uns befinden. Sie liegt am Meer und hat einen eigenen kleine Fujipark.

Autofiktion?

Ich glaube das Autobiographische, oder besser das Autofiktionale, steckt in der Sicht auf die Dinge. Wir sehen sozusagen durch die Augen des spazierenden Mannes auf die Welt, auf die Welt, wie Taniguchi sie sieht.

In einem Interview mit Lars von Törne erzählt Taniguchi, dass er selbst sehr viel flaniert ist, um Ideen zu sammeln. Er wählt für seine Geschichten vor allem Orte, die er gut kennt. Seinen Wohnort am Rande Tokyos und Ottori, der Ort, in dem er aufgewachsen ist. Er sucht alle Orte seiner Geschichten auf, macht viele Fotos. Für die Geschichten werden sie dann aber — wir erinnern uns erfinden und übertreiben — ausgeschmückt.

Und natürlich hat er nicht nur die Orte ausgeschmückt, sondern auch die Spaziergänge selbst.

Kleine dramaturgische Bögen

Sie haben alle einen eigenen manchmal fast unmerklichen dramaturgischen Bogen. Es ereignen sich immer kleine oder besser kleinste Geschichten, Begegnungen.

Der Spaziergänger läßt sich nassregnen, kraucht unter vom Unwetter umgestürzten Baumen, watet barfuss mit aufgekrempelten Hosen durch Pfützen, steigt einem Impuls folgend aus dem Bus und steigt auf einen Berg, sucht in der Bibliothek nach dem Namen der Muschel, die sein Hund im Garten ausgebuddelt hat, klettert des nachts über den Zaun ins Schwimmbad, um ein paar Bahnen zu ziehen.

Taniguchi geht von eigenen Erlebnissen aus und füllt die Lücken mit kleinen Erfindungen, bis sich lose zusammenhängende Geschichten ergeben.

Ligne Claire

Wir sehen die Welt durch die Augen des Spaziergängers, er bleibt namenlos, er sagt beinahe nichts und er ist auch nicht sehr ausdrucksstark gezeichnet. Während die Figur eher vereinfacht-reduziert dargestellt ist, wird der Hintergrund, die Stadt, die Landschaft umso detailreicher dargestellt. Eine für Mangas untypische Vorgehensweise. Taniguchis Zeichenstil wird daher immer wieder mit der europäischen Stilrichtung Ligne Claire in Verbindung gebracht.

Ein Stil, der auf Hergé zurückgeht, den wir alle als den Erfinder von Tim und Struppi kennen. Bei Wikipedia heißt es über ihn:

Seine Zeichnungen sind geprägt von klaren Konturen, die ohne Schraffuren oder Schattierungen auskommen. Die Kolorierung folgt dem und arbeitet ohne Farbverläufe mit einfarbigen Flächen. Besonderes Merkmal ist zudem das Abstraktionsgefälle innerhalb der Zeichnungen: Während die Figuren, besonders die Mimik, stark vereinfacht werden, bemühte Hergé sich gerade ab der Mitte der 1930er Jahre um detailgetreue und realistische Darstellung der Hintergründe und der Requisite.

Auch Taniguchi arbeitet ohne Verläufe. Er zeichnet mit Bleistift vor, zieht dann die Linien mit Tinte. Schattierungen werden mit screentone Folien von Hand aufgebracht. Für diejenigen, die sich dafür interessieren, wie das aussieht, gibt es am Ende des Beitrage ein schönes Video.

Der poetische Blick

Das alles macht immer noch nicht deutlich, was denn an diesen Büchern autobiographisch sein soll. Der Spaziergänger sieht nicht aus wie Taniguchi, ist vermutlich kein Mangaka. Ob Taniguchi verheiratet war, weiß ich nicht. Er hat lediglich dort gewohnt, wo der spazierenden Mann langgeht. Ist dort auch langgegangen, hat die Orte genauso gesehen, viele Begebenheiten auch erlebt. Reicht das?

Für mich sind diese Bücher autobiographisch, weil Taniguchi mich dermaßen nah in seine Welt hineinläßt. In die Art, wie er die Welt wahrnimmt. Mit einem Blick für die kleinen Details, die wundersamen alltäglichen Begegnungen. Er zeigt jemanden der sich dem Flow hingibt. Seinen Impulsen folgt. Sich und seine Emotionen nicht so wichtig nimmt. Ein Taifun tobt. Man sitzt ruhig und genießt den Kerzenschein. Die Bäume sind umgestürzt , kriecht man halt drunterher. Seine Brille wird zerbrochen. Macht nichts. Sieht die Welt eben zersplitterter aus.

Wir sehen also, der Autor muss nicht unbedingt als Protagonist in einer Autofiktion erscheinen. Er kann sich einen Stellvertreter erfinden, wie hier den spazierenden Mann. Und er muss auch keine einzelne wichtige oder traumatische Begebenheit erzählen oder eine lange dramatische Geschichte.

Denn Taniguchi erzählt keine große zusammenhängende Lebensgeschichte. Die Geschichte erzählt sich durch die kleinen Beobachtungen. Durch achtzehn kleine, man könnte beinahe sagen, unbedeutende, alltägliche Spaziergänge. Doch sind sie alltäglich. Nein. Sie sind genau das Gegenteil, sie sind aus dem Alltag herausgehoben in eine andere Sphäre in eine Sphäre größerer Achtsamkeit. Und diese Achtsamkeit gibt ihnen Bedeutung.

Hier fallen der Erzähl- bzw der Zeichnungsstil wunderbar mit dem Erzählten zusammen.

Wie ich es sonst nur bei dem anderen großen Spaziergänger, Geher und Flaneur kennengelernt habe, der auf der gegenüberliegenden Seite der Welt die Vororte von Paris durchstreift.

Es ist immer ein besonderes Glück, ein Buch zu finden, nach dessen Lektüre man die Welt ein wenig anders sieht.

Und hier das Video, in dem ihr einen Eindruck davon bekommt, wie screentone Folie verarbeitet wird:


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