Rezension

»Dein Fortsein ist Finsternis« von Jón Kalman Stefánsson

28. Januar 2023
Jón Kalman Stefánsson – Dein Fortsein ist Finsternis

Obwohl ich noch nie den Norden bereist habe, ist er aber für mich eine Art Sehnsuchtsort. Und ich liebe nordische Literatur, nicht nur Espedal, Merethe Lindstrøm, nein, ich lese sogar Knausgård, aber vor allem Jon Fosse, Sjón und eben Jón Kalman Stefánsson. Im Gegensatz zu seinem Landsmann Sjón, der in knappesten Texten ungeheuer wuchtige Bilder erschafft, lässt Jón Kalman Stefánsson die Worte fließen. Da eher vergleichbar mit Jon Fosse, der etwa in »Der andere Name« und »Ich ist ein anderer« in einer mäandernden Sprache eine gedankenreiche, atmosphärisch dichte Welt erstehen lässt.

Während Fosses Bücher allerdings von einer durchgehenden neudeutsch: acceptance durchdrungen sind, wird in Stefanssons Büchern gerungen. Gerungen mit der Dunkelheit, der Kälte, der Einsamkeit, der Liebe und vor allem dem Verlangen nach Wissen, nach Büchern. Schon in der Duologie »Himmel und Hölle« und »Der Schmerz der Engel«, (beide 2011 bei Piper) erfriert der junge Baldur wegen seiner Liebe zur Literatur auf dem Meer im eiskalten Nachtsturm und sein namenloser Freund wird aus der Wärme der Bücherstube auf eine todbringende Reise über zugefrorene Fjorde und vereiste Hochplateaus geschickt.

Mit »Dein Fortsein ist Finsternis« gelingt Jón Kalman Stefánsson ein Meisterwerk

Jón Kalman Stefánsson, 2022 | Foto: Hreinn Gudlaugsson

Alle in den früheren Büchern noch anzutreffenden —manchmal übertrieben oft eingestreute— scheinbar philosophische Erkenntnisse und universale Wahrheiten hat er nicht mehr nötig.

Stattdessen entwickelt er in einer wuchtigen, aber klaren —aus dem isländischen von Karl-Ludwig Wetzig hervorragend übersetzten— Sprache einen ungeheuer vielschichtigen und beeindruckend konstruierten Roman über mehrere Generationen vom Anfang des 19.Jhd bis in die Coronazeit.

Jede einzelne dieser Episoden, die sich immer wieder fragmentarisch über den Text aufbauen, ist schon einen ganzen Roman wert. Etwa die dramatische Geschichte eine Bäuerin, die sich in einer Vorzeit unter schwierigsten Bedingungen Literatur und Zeitschriften beschafft. Die dann selbst einen Text über Regenwürmer schreibt, mit dem sie Erfolg hat, Zugang zu einer neuen Welt erhält und eine, nein zwei dramatische Liebesgeschichten auslöst.

Eine andere Geschichte geht nicht so gut aus, dort erfriert der Familienvater, während er vor der Haustür liegend fasziniert vom Universum in den klaren Nachthimmel schaut, weil er die neue Galaxie zu finden versucht,

die in der Welt draußen vor Jahrzehnten entdeckt worden war, er aber erst vor Stunden davon in einer englischen Zeitung gelesen hatte.

Sein kleiner Sohn stolpert mit voller Blase auf dem Weg zum Plumpsklo über den Toten Vater.
Auch dieser kleine Junge, der verzweifelt versucht, seinen Vater zu wecken, wird weggeben. Ein Motiv, das Jón Kalman immer wieder in seinen Büchern aufgenommen hat. Wenn auf dem Land in Island der Familienvater starb, meist auf See ertrank oder irgendwo erfror, wurde die Familie aufgelöst, die Kinder verteilt. Der kleine Junge wird später im Alter selbst noch einmal ein — aus einem anderen Grund — von der Mutter das Kindes getrenntes Kind aufnehmen.

Die Vergangenheit lebt

Trotz des Personenverzeichnisses am Ende das Buches hat sich bei mir erst allmählich, und ich denke, das wird vielen Leser:innen so gehen, die Erkenntnis eingestellt, das alle oder zumindest die meisten Protagonisten in irgendeiner Weise miteinander verwandt sind, oder in früheren Generationen miteinander zu tun hatten. Dabei wird dieses Leitmotiv der generationenübergreifenden Traumavererbung im ersten Absatz des Buches von einem heterodiegetischem Erzähler in Form einer Behauptung unverblümt angesprochen.

Die Gene tragen Eindrücke, Erinnerungen, Erfahrungen und Erschütterungen von einem Leben ins nächste, und in diesem Sinn existieren manche von uns noch lange, nachdem wir verschwunden und schon lange vergessen sind.

Der gedächtnislose Erzähler

Jón Kalman schreibt auch gegen dieses Vergessen an. In Archiven mit Bevölkerungsverzeichnissen und Personenregistern findet er Daten und rare Hinweise zu seinen historischen Personen. Scheinbare Fakten, die so dem Vergessen entrissen sind. Aber ihre Geschichten, Träume, Wünsche, Ängste, Hoffnungen und Leidenschaften sind dem Erinnern und dem Gedächtnis verloren gegangen. Es bleibt ihm nichts anderes als ihre Geschichten zu erfinden oder zu erträumen. Das ist alles, was ihm möglich ist. Und das ist wunderbar viel.

Folgerichtig und genialerweise ist der Ich-Erzähler namen- und gedächtnislos. Und er beginnt seine Geschichte:

Möglicherweise erträume ich Folgendes:

Dass er dabei den historischen Protagonisten manchmal sehr modern klingende Ansichten und Überzeugungen anerträumt tut der Geschichte keinen Abbruch. Etwa wenn die junge Studentin nach einer flüchtigen Begegnung den vernünftig Verlobten verlässt, in die Pampa fährt, um ihrer Leidenschaft zu folgen und die Alten, die ihr einen Lift geben, sie ermuntern.

Liebe und Vernunft haben sich wohl selten gut vertragen. Es wäre besser, wenn es anders wäre. Doch dann müssten wir uns Sorgen um die Menschen machen. Besonders die Jungen brauchen sich nicht immer an die Vernunft zu halten. Überlass es uns Älteren, vernünftig sein zu wollen. Wenn ihr jungen Leute nie etwa Unvernünftiges tut, stirbt das Leben.

Ein Buch, das man nicht aus der Hand legen will …

… weil es — nicht nur den Jüngeren —Mut macht, Widrigkeiten durchzustehen und seinen Leidenschaften zu folgen.

Absolut lesenswert.

btw: Die Musik

Immer wieder spielt auch Musik eine große Rolle in dem Buch, nicht nur sind zwei der Protagonisten Halldor und Eirikur leidenschaftliche Musiker, sondern es wird auch immer wieder Musik gehört. Erst nachdem ich mir schon viele der Songs bei meinem favorisierten Streamingdienst angehört hatte, habe ich gemerkt, dass am Ende des Buches eine komplette Playlist aller Songs im Buch aufgelistet: Die Playlist des Todes.

Absolut hörenswert.


 

 

 

 

 

 

 

 

Jón Kalman Stefánsson
Dein Fortsein ist Finsternis
(aus dem isländischen von Karl-Ludwig Wetzig)
544 Seiten
Piper Verlag 2023


Digitales Rezensionsexemplar über Netgalley.

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