Auf der anderen Seite - Traumtexte

#15 Der Tanz

24. November 2021

Das Problem des Schriftstellers, überhaupt des Künstlers, ist doch, daß er sein ganzes werktätiges Leben versucht, auf das poetische Niveau seiner Träume zu kommen.
(Heiner Müller)

Intro und Textverzeichnis


 #15 Der Tanz

Das Kind tanzt über den Teakholzboden des zweigeschossigen Salons. Ich kann es deutlich spüren, bevor es barfuß ins Bild läuft. Es dreht sich, blickt über die Schulter und sieht oben hinter der Glasbrüstung der umlaufenden Galerie einen schlanken Mann. Vielleicht dreißig Jahre alt, kurzer gepflegter Bart, weißes Hemd mit bauschigen Ärmeln unter einer engen Tweedweste. Aus einer anderen Zeit, bemerkt er das Kind nicht. Gleichzeitig steht er weit hinten im Gelände und das Kind sieht ihn von oben, während es auf die Glasfront zum Garten zuläuft und mit einer Hand über den glatten Sichtbeton der Wände streicht. Es geht neugierig in die Zimmerecke, legt die Stirn an die Scheibe, schirmt die Augen ab, um besser in den Garten hinunter zu sehen.
— Aber der ist zu klein für mich, vielleicht nur eine neue Variante.

— Nein, jemand anderer hatte auch schon mal eine gute Beziehung in einem Garten. Sie haben einander gefunden, weil er ihr nachgestellt hat. Oder war es die Uhr, die er nachgestellt hat? Für jemanden. Ich weiß es nicht mehr. Die Stimme der unsichtbaren Sängerin, die mitten im Raum in einer freistehenden Badewanne liegt. Unter einer glattgestrichenen, weißen Bettdecke, beinahe wie der tote Marat. Allerdings sitzt sie nicht wie der, sondern liegt und ist weder tot noch nackt. Jetzt von oben gesehen, ist ein offener strahlenblauer Mantel das Erste, was an ihr besonders auffällt. Das Blau beherrscht das Bild, fordert Platz, verdrängt das Weiß der Daunendecke. Die quillt jetzt über die Ränder der Wanne, wie die Worte aus dem Mund der Frau. Sie redet viel. Nur für sich. Schimpft in den Raum hinaus, in sich hinein. Auch zynisch. Haha, ich jetzt hier verlebt in meinem Bademantel. Und wirklich, der Rand eines braunen Frotteemantels, den sie über ein weißes Hemd gezogen hat, ist unter dem Revers des Blau zu sehen. Schicht für Schicht, für Schicht, für Schicht. Ein Engel schwebt heran, flüstert ihr ins Ohr. Zu hell. Ich drehe mich weg.

Muss um einen Schreibtisch, Kunsttisch herum. Darauf liegen zwischen den Stiften und Scheren blasse Schwarzweiß Fotografien. A3 groß, etwa. Plötzlich bewegen sich darauf Strichzeichnungen, rutschen weg, geben den Blick frei auf Figuren. Ganz blass, alles in sehr zartem hellgrau tanzen zwei sehr schlanke, nackte Menschen umeinander. Jagen sich halb tangoernst, halb spielerisch. Ein Boden, ein Raum ist kaum erkennbar. An den Rändern fade to white. Der männliche Mensch springt von hinten auf sie. Umklammert sie. Sie trägt ihn Huckepack. So leicht ist er, so stark ist sie. Ein Tanz, bei dem er einen Ständer hat, echt, aber inszeniert.
Auf dem Schreibtisch liegen sechs oder zehn von diesen Fotos. Oder Videos, Videofotos. Ausgedruckten gifs. Mal umkreist er sie, mal rennt sie schwebend auf ihn zu. Fliegt über ihm, taucht unter ihm hindurch. Auf einem ist extrem nah, aber blass zu sehen, wie er am Ende kommt, wie er sich entladen muss nach dieser Inszenierung.
Ich bewundere diese radikale Arbeit. Anna und Bernhard Blume revisited.

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