Auf der anderen Seite - Traumtexte

#8 Suddeck

6. Oktober 2021

Das Problem des Schriftstellers, überhaupt des Künstlers, ist doch, daß er sein ganzes werktätiges Leben versucht, auf das poetische Niveau seiner Träume zu kommen.
(Heiner Müller)

Intro und Textverzeichnis


 #8 Suddeck

Diesmal stehe ich mit beiden Beinen auf der Erde. Über mir wölbt sich ein halbdunkles, staubiges Theatercamp in einer weiten, beinahe leeren Bretterhalle. Weit oben, sehe ich jetzt, hängen Holzhausverstecke, riesige überdimensionale Spielplatzholzgerüste, Piranesitreppen, Bretterbuden, Seile, Kletternetze, Streben, Pfosten, Hängeböden. Durch Ritzen zwischen den Dachbrettern scheint hauchdünn die Sonne. Bildet undurchsichtige Wände aus Lichtstrahlen und Staub.
Wird hier gearbeitet? Gespielt? Trainiert? Geprobt? Überall klettern Menschen auf Gerüsten, an Strickleitern und jetzt auch auf dem sandigen, aschigen Boden. Planen sie eine Aufführung, eine Expedition? Einen Anschlag? Bin in auch dabei? Eingeplant, oder zufällig aufgesogen, integriert? Einer von ihnen? Spiele ich eine Rolle?

Da regnet es, schüttet Wasser, wie heißt es? Aus Kübeln. Wolkenbruch? Es ist dunkel. Licht wird zu Wasser. Staub zu Schlamm. Die Flügel des Engels neben mir kleben nass am Rücken. Es ist eine Frau, ganz ohne Flügel. Gibt Anweisungen, vergeblich, schaut mich mit nassem Gesicht an.
—Oh dieser Regen.
—Mir macht der Regen nichts aus. Ich bin ein Regenmensch. Ein Feste-Schuhe-Mensch.
Nur manchmal bin ich zu eitel, da ziehe ich schöne Schuhe an mit unbrauchbaren Ledersohlen, glattrasierte rote Teppich- und Theatertreppenschuhe. Aber das sage ich nicht.

Ich renne unter Jacken geduckt mit der Engelin über die Straße. In den Straßenbahnschienen rauscht das Wasser. Es murmelt: man muss Festschuhe haben.
Ich sehe an mir herunter, ich hab die Dockers an, die alten gefütterten, die früher mal »honiggelb« waren. Stehe bis an die Knöchel im Schlamm. Das sind keine Festschuhe, das sind feste Schuhe. Ich will die Engelin darauf aufmerksam machen. Doch sie ist stehen geblieben. Redet mit jemand anderem. Barfuß.

Ich erreiche die andere Straßenseite. Das andere Ufer. Auch hier ein zeltartiges Holztheater. Alle warten auf Suddeck. Suddeck kann nicht auftreten heute. Er ist krank. Ihm geht es nicht so gut. Er ist suicidal. Darüber gehen die Meinungen auseinander. Aber alle haben, genau wie ich, seinen Namen vergessen. Keiner weiß, doch alle wissen, dass er aus den Sudenten vertrieben wurde. Nein, er ist hier geboren. Es müssen seine Eltern gewesen sein, die vertrieben wurden. Er hat sie nie gesehen. Darum heißt er Suddeck. Bei uns. Schon immer. Ich denke das nur, sage kein Wort, aber alle schauen mich von ihren Schaukeltrapezen entgeistert an. — Woher willst du das wissen?
—Von Rote Erde, wir haben jahrelang auf der roten Asche gespielt.
Und ich kenne Suddecks Namen nicht. Aber ich weiß, dass er heut nicht spielen kann. Ich muss es ihnen sagen.

Okay, ich gehe durch den Vorhang in das Jurtenzelt zu seinen Leuten. Ich kann hier nicht rein, habe Schlammschuhe an und die Worte platzen mir tonlos aus dem Mund. Fliegen als stummer Wind von mir weg.
—Suddeck wird heute nicht spielen, ihm geht es nicht so gut.
Sie schauen mich nicht an. Hören aber, was ich sage.
—Und lasst ihn, falls er kommt, auf keinen Fall auf das Gerüst.

Da aus dem Regennebel kommt Suddeck in grünem Maikäferparker. Offene weite Fellkragenkapuze. Oder hat er die ganze Zeit schon dort gestanden? Es hat aufgehört zu regnen. Kaum jemand bemerkt, dass sogar die Sonne schon wieder an den Wolken vorbei scheint, ab und zu. Jetzt wieder.

Ich erkenne ihn erst gar nicht und würde ihn auch nicht erkennen, wäre es nicht ein Traum, der mir wieder die klappernde Bohnenstange zeigt. Vor mir im Mittelfeld unermüdlich rennend, mit dünnen, etwas zu langen Beinen, die als scheinbar unkoordinierte Fangarme um seinen Körper herumschlackern, als gehörten sie nicht wirklich dazu, dennoch den Ball anziehen und an seinen Schuhen kleben lassen, als er losstürmt und sich dabei mal wieder auf dem Plart verläuft. Sich verwirrt umschaut. Wo ist der Ball jetzt? Jetzt ist Suddeck wieder blass aber aufgedunsen. Steht vor mir. Zwei Traummeter entfernt. Glatt. Der Körper prall, oval und dick geworden. Er hat seine Fussballschuhe an. Verschlammt.

Er lächelt. Wissend, abwesend, betrunken. Weiß, dass er durchscheinend ist, durchschaut, obwohl ihn niemand hier durchschaut. Stoned ist er. Testbettenmüde, sagt er. Natürlich wird er spielen. Natürlich nicht. Er kann kaum reden, kaum stehen.
—Setz dich hin. Ich kenne deinen Namen nicht.
—Ich weiß, Du kennst meinen Namen nicht. Keiner kennt ihn. Schau aufs Plakat. Da steht mein Name.
Ich stehe auf, schaue mich um, suche das Plakat. Er legt seine Hand um meinen Nacken. Zieht mich zu sich ran. Flüstert mir ins Ohr: —Der Torwart, hast du das gesehen, der Torwart sieht aus wie ein Affe.
Dann kippt er um. Löst sich auf in Licht. War niemals hier.

Ich bin wieder drüben im Regen bei den anderen. Will ihnen undercover, die Nachricht überbringen.
Sie haben sich zu Hunderten zu einem Gruppenfoto aufgestellt, mit dem sie alle vaccinated feiern.

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